Editorial

Mutierter Wald rund um Tschernobyl

Will ein Biologe seinen Modellorganismus im Labor unter Stress setzen, bestrahlt er ihn zuweilen radioaktiv und untersucht, was passiert. Wie bestimmte Teile der Erbsubstanz einer Ackerschmalwand, die im Labor wächst, auf Radioaktivität reagieren, wissen wir recht genau. Doch was geschieht mit langlebigen Lebewesen in der Natur, die zwangsweise erhöhter Strahlung ausgesetzt sind?

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(5. Mai 2011) Ein Outdoorlabor, in dem die Umwelt seit 25 Jahren unter steter Strahlung steht, befindet sich in Tschernobyl. In wenigen hundert Metern Entfernung um den 1986 explodierten Kernreaktor wächst Kiefernwald, von dem ein Großteil nach dem Unfall aufgrund der hohen Strahlung abstarb. Roter Wald heißt er seitdem, wegen der rotbraunen Farbe der abgestorbenen Kiefernstämme.

Um Verwehungen von radioaktivem Staub in die Umgebung zu verhindern, wurde der Rote Wald mit neuen Kiefernsetzlingen aufgeforstet, von denen auch viele abstarben. Einige der neu gesetzten Kiefern aber hatten einen Selektionsvorteil. Sie überlebten die Strahlenbelastung, die mit 0,9-4,4 Millirem pro Stunde (mR/h) bis heute hundert bis vierhundert mal höher ist als in einer Vergleichspopulation. Allerdings wachsen sie langsamer als gesunde Bäume, haben gelb verfärbte Nadeln und veränderte Formen.

Wie unterscheidet sich das Genom der überlebenden Kiefern (Pinus sylvestris) im Roten Wald von anderen? Das untersuchten die Göttinger Forstwissenschaftler Oleksandra Kuchma und Reiner Finkeldey vom Büsgen-Institut. Diese Kiefern besitzen bestimmte Genvarianten häufiger als eine Vergleichspopulation anderer ukrainische Kiefern aus der gleichen Zucht, die damals an ähnlichen Standorten ohne radioaktive Strahlung gepflanzt wurden (Environ Poll 2011, 159(6):1606-12, Epub ahead of print).

„Wir waren sehr überrascht, im Genom so viele veränderte Orte zu finden, an denen der Selektionsdruck offensichtlich gewirkt hatte”, sagt Finkeldey. Dass die verstrahlten Bäume eine erhöte Mutationsrate aufweisen, hatten die Forscher schon in einer früheren Studie gezeigt (Barbara Vornam et al., Eur J For Res 2004, 123(3):245-8). Doch diesmal suchten sie direkt nach den betroffenen Genomabschnitten, die den Bäumen das Überleben in der verstrahlten Umwelt ermöglichen.

Da das Genom der Kiefer zu groß ist, um es einfach zu sequenzieren, erstellten Kuchma und Co. einen genetischen Fingerabdruck per AFLP (amplified fragment length polymorphism). Bei einer AFLP-Analyse wird die DNA mit Restriktionsenzymen verdaut, die an bestimmten Stellen schneiden; die so entstandenen Fragmente werden vervielfältigt und auf einem Gel verglichen. Allerdings zeigt sich bei dieser Methode nicht, wo genau im Genom die Schnittstellen und somit auch die entdeckten Veränderungen liegen. Die Genetiker können nur eine Aussage darüber machen, wie stark sich Populationen unterscheiden.

Von den 222 untersuchten Genloci waren 15 in den überlebenden Kiefern aus dem Roten Wald verändert. Dieser Anteil von sechs Prozent ist viel höher als zwischen gesunden Populationen an vergleichbaren Standorten. Ob aber wirklich sämtliche Unterschiede wichtig für das Überleben der Kiefern waren, bleibt unklar.

Darüber, wie sich die Strahlung auf die Fortpflanzungsfähigkeit und damit auf das langfristige Überleben der Kiefern auswirkt, macht die Studie keine Aussage. Sie zeigt lediglich, dass die Mutationen mit erhöhter Strahlung korrelieren. In einer Folgestudie möchten die Forscher die Genregionen, die vermutlich besonders stark unter Selektionsdruck stehen, sequenzieren, um zu sehen, welche Enzyme hinter den Veränderungen stehen. Doch Finkeldey stellt klar: „Das eine Gen, das Pflanzen unempfindlich gegen Strahlung macht, wird es nicht geben. Die Antworten geschehen an vielen Stellen und sind hoch komplex.”

Henriette Walz
Bildnachweis: LiliConCarne / photocase.com



Letzte Änderungen: 04.03.2013