Editorial

Pflanzenvielfalt aus dem Tiefkühlschrank

Die Vielfalt an Nutzpflanzen auf den Äckern nimmt weltweit ab. Um einzelne Sorten vor dem Aussterben zu bewahren, lagert man vermehrungsfähiges Saat- oder Pflanzgut in Genbanken ein.

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(23. Mai 2011) Nur vier Nutzpflanzen tragen weltweit zu 75 Prozent der Nahrungsmittelkalorien bei: Weizen, Reis, Mais und Soja. Die mehr als hundert in Deutschland zum Anbau zugelassenen Weizensorten haben mit der Urform des Weizens nicht mehr viel gemein. Hauptaugenmerk legen die Züchter auf hohen Ertrag und Krankheitsresistenz. Jedes Jahr kommen weitere neue Sorten auf den Markt, einige davon entwickeln sich zum Verkaufsschlager und herrschen dann auf unseren Äckern vor.

„Dominierende Sorten bedeuten automatisch, dass die genetische Vielfalt abnimmt“, berichtet Andreas Graner, Leiter der Genbank des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben. „Da verbesserte Neuzüchtungen die größte Anbaufläche einnehmen, besteht eine negative Korrelation zwischen dem Fortschritt in der Züchtung und der genetischen Diversität“, so Graner. Obwohl das Resistenzniveau unserer Kulturpflanzen gegen Krankheiten in den letzten Jahrzehnten sukzessive angestiegen ist und weit über dem der alten Landrassen liegt, werden diese Resistenzen häufig von neuen Erregerstämmen durchbrochen. Als Folge müssen die Züchter widerstandsfähigere Sorten generieren, um wieder die Oberhand in diesem wechselseitigen Anpassungsprozess zu gewinnen.

Doch was passiert mit älteren Sorten, die nicht mehr aktuell sind? „Eine Kulturpflanze wird nie ohne den Menschen überleben können und würde in der Natur einfach untergehen“, weiß Graner. Um das Aussterben von Kulturpflanzen zu verhindern und ihre Diversität zu bewahren, konserviert man Pflanzenmaterial in Genbanken, so dass man später einmal wieder darauf zurückgreifen kann. Die Genbank des IPK Gatersleben ist eine der weltweit artenreichsten Sammlungen: „Von den etwa 7.000 Arten, die in den letzten 10.000 Jahren irgendwann einmal als Kulturpflanzen vom Menschen genutzt wurden, haben wir 2.649 Arten mit 146.966 Mustern in Gatersleben“, erklärt Graner. Dass die ehemals große Vielfalt auf den Äckern durch die systematische Pflanzenzüchtung rapide abnahm, erkannte bereits in den 1920ern der Botaniker und Genetiker Nikolai Wawilow. Er organisierte weltweite Sammelreisen und baute die erste Genbank auf, mit dem Ziel die genetische Vielfalt von Kulturpflanzen zu erhalten. Noch heute befindet sich die weltweit größte Genbank im russischen Wawilow-Institut in Sankt Petersburg.

In Gatersleben gibt es seit 1943 eine Kultur- und Wildpflanzensammlung. Vom gesammelten Material legt man als Referenz zunächst ein Herbar an. Nach dem Anbau der entsprechenden Pflanze wird das Saatgut getrocknet, gereinigt und schließlich bei -18°C gelagert. Da die Samen nicht unbegrenzt haltbar sind, muss im Durchschnitt alle 20 Jahre eine Regeneration stattfinden, das heißt die Pflanze muss im Feld angebaut werden. Das ist logistisch sehr aufwändig, da sich die Genbankmuster untereinander oder mit Pflanzen benachbarter Felder auf keinen Fall vermischen dürfen. Pflanzen, die sich vegetativ vermehren, wie zum Beispiel Knoblauch und Kartoffel, erhält man mittels in vitro-Kultivierungszyklen oder Kryo-Konservierung. Für die unbegrenzte Kryo-Lagerung in flüssigem Stickstoff verwendet man beispielsweise das undifferenzierte, teilungsfähige Meristemgewebe aus den Spross-Spitzen der Kartoffel. „Solange die Probe in flüssigem Stickstoff liegt, ist das eine einfache und kostengünstige Lagermöglichkeit. Eine Kryo-Konserve aufzutauen und zu rekultivieren ist jedoch sehr aufwändig“, merkt Graner an.

Die genetischen Ressourcen, die das Genbankmaterial bietet, nutzen Züchter, um neue Sorten zu erstellen. „Die genetische Vielfalt ist der Treibstoff der Pflanzenzüchtung und Genbanken sind das Reservoir zur Erzeugung der genetischen Vielfalt. Aus ihnen muss man schöpfen, um züchterische Verbesserungen zu erzielen, egal ob mittels Gentechnik oder konventioneller Pflanzenzüchtung“, so Graner. In Zukunft steht der Kulturpflanzenzüchtung viel Arbeit bevor, denn laut Schätzungen der Food and Agriculture Organization (FAO) muss sich die landwirtschaftliche Produktion bis zum Jahr 2050 verdoppeln, um auf der Erde 9 Milliarden Menschen ernähren zu können.

Kai Krämer
Bild: misterQM / photocase.com



Letzte Änderungen: 04.03.2013