Editorial

Alternsforschung: Rotkehlchen und Alligatoren

In unserem Artikel zur Alterns- und Altersforschung (LJ 9/2011) fanden viele interessante Aspekte keinen Platz. Um diesem Mangel wenigstens ansatzweise zu begegnen, haben wir eine weitere Alternsforscherin zu ihrer Forschung befragt.

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(1. September 2011) Annette Baudisch leitet am MPI für demografische Forschung in Rostock die Arbeitsgruppe "Modellentwicklung zur Evolution des Alterns". Ihr Ansatz: Das Altern manifestiert sich in steigender Mortalität und sinkender Fertilität. Diese Altersverläufe wollen sie und ihre Gruppe im Rahmen der evolutionären Gesetzmäßigkeiten erklären.

 

Laborjournal: Sie erforschen das Altern bei verschiedenen Organismen. Was genau untersuchen Sie?


Annette Baudisch: Wir untersuchen, wie sich verschiedene Tier- und Pflanzenarten im Laufe des Lebens verändern. Dabei schauen wir nicht auf die Veränderungen der Organismen mit dem Alter, weil verschiedene Arten sehr unterschiedlich altern. Fische bekommen zum Beispiel keine grauen Haare. Wir untersuchen das Altern nicht auf Organismen- oder Zellebene, sondern auf der Ebene der Population, und zwar anhand der Sterberaten.

 

Was ist das?


Annette Baudisch: Das ist der Prozentsatz der Individuen einer Population, der in einem bestimmten Lebensalter stirbt.

 

Und wie unterscheiden sich die einzelnen Arten darin? Altern nicht alle gleich?


Annette Baudisch: Nein. Am auffälligsten ist, dass verschiedene Tier- und Pflanzenarten unterschiedlich lange leben. Außerdem entwickelt sich die Sterberate bei jeder Art anders. Beim Menschen steigt die Sterberate mit dem Alter, aber es gibt auch Arten, bei denen die Sterberate über die gesamte Lebensspanne hin gleich bleibt oder in höherem Alter sogar fällt. Und das interessiert uns besonders – welche Arten das sind und warum das so ist. Das ist noch völlig unerforscht.

 

Wie muss ich mir das praktisch vorstellen, wenn die Sterberate sinkt?


Annette Baudisch: Denken wir an Schildkröten. Die kleinen Schildkröten haben im ersten Lebensjahr ein sehr hohes Risiko, zu sterben, sagen wir - hypothetisch - 90 Prozent werden gefressen. Von den überlebenden 10 Prozent sterben im zweiten Jahr vielleicht nur noch 50 Prozent. Die Zweijährigen sind bereits viel größer und stärker, von ihnen würden nur noch 20 Prozent sterben. Die Sterberate wäre also in den ersten Lebensjahren gesunken. Bei anderen Arten sinkt die Sterberate auch noch, wenn sie schon erwachsen sind.

 

Und wie ist das beim Menschen?


Annette Baudisch: Die Sterberate sinkt nur am Anfang des Lebens. Die Säuglingssterblichkeit ist bei uns zwar niedrig, trotzdem ist die Geburt immer noch ein gefährlicher Moment im Leben eines Menschen. Danach wird es aber rapide besser und die Sterberate fällt. Ab der Pubertät steigt die Sterberate dann kontinuierlich an, sie verdoppelt sich etwa alle acht Jahre. Erreicht man ein Alter von 90, steigt sie langsamer und irgendwann, ab etwa 110 Jahren, verändert sie sich nicht mehr. Von den 110-Jährigen sterben etwa 50 Prozent, ebenso wie von den 111-Jährigen. Aber da muss man aufpassen: dass die Sterberate gleich bleibt, bedeutet nicht, dass sich für die Individuen nichts ändert. Die Kranken sterben jedes Jahr weg und die Robusten bleiben am Leben, und jedes einzelne Individuum altert kontinuierlich weiter.

 

Was ist bei anderen Arten anders?


Annette Baudisch: Bei uns Menschen, vor allem den modernen Menschen, ist die Sterberate am Anfang so niedrig, dass es erst einmal nichts ausmacht, wenn die Sterberate Jahr für Jahr ansteigt. Es bleiben immer noch genug Menschen übrig. Beim Rotkehlchen, welches wir auch untersucht haben, ist das anders: Bei denen ist die Sterberate so hoch, dass die meisten schon nach dem ersten oder spätestens dem zweiten Jahr tot sind. Die Sterberate ändert sich dabei kaum. Sie könnten es sich als Art auch gar nicht leisten, dass sie noch höher wird. Ob ein Rotkehlchen ein oder zwei Jahre alt ist, macht für die Sterbewahrscheinlichkeit keinen großen Unterschied. Man kann also sagen, dass sie von der Populationsebene aus gesehen nicht stark altern – weil sie insgesamt ein hohes Sterberisiko haben. Wir haben zwar keine Daten darüber, woran sie sterben, aber es sind wohl vor allem äußere Einflüsse wie Witterung oder Krankheiten (Methods Ecol Evol 2011, 2(4):375-82).

 

Ein weiteres Beispiel ist der Süßwasserpolyp Hydra, von dem oft gesagt wird, er sei potenziell unsterblich. Das ist er natürlich nicht, man kann Hydra leicht umbringen, indem man einfach das Wasser ablässt oder ihn nicht mehr füttert. Aber wenn man sich wie hier am Institut gut um die Tiere kümmert, dann leben sie immer weiter und zeigen keine Anzeichen von Alterung. Bei ihnen bleibt die Sterberate immer gleich.

 

Und dann gibt es noch eine ganze Reihe von Tieren, wie Alligatoren, Schlangen oder Schildkröten, die auch als Erwachsene, nach der Geschlechtsreife, noch weiter wachsen. Größere Tiere können zudem mehr Eier legen und werden seltener gefressen. Die Fortpflanzungsrate steigt also mit dem Alter, während die Sterberate sinkt. Dieses Phänomen nennen wir negative Seneszenz.

 

Loriot ist gerade mit 87 Jahren offiziell an "Altersschwäche" gestorben. Könnte das einem Alligator also nicht passieren?

 

Annette Baudisch: So gesehen nicht. Beim Alligator sinkt die Sterberate im Laufe des Lebens, beim Menschen liegt das Sterberisiko mit 80 Jahren etwa tausendmal so hoch wie mit 20. Deswegen kann man sagen, wir Menschen vergreisen sehr stark. Alligatoren nicht.

 

Sie erforschen auch die "Evolution des Alterns". Was sind denn die evolutionären Vor- und Nachteile der verschiedenen Alternsformen? Warum machen wir es nicht einfach alle so wie die Alligatoren?


Annette Baudisch: Vermutlich wiegen die Gründe, die dagegen sprechen, schwerer. Säugetiere sind nicht dafür ausgelegt, immer weiter zu wachsen.

 

Aber wir könnten doch wenigstens bis ans Ende unseres Lebens fortpflanzungsfähig bleiben.

 

Annette Baudisch: Warum das vor allem bei Frauen nicht der Fall ist, ist eine gute Frage. Es ist ja noch nicht lange so, dass ein Großteil der Frauen nach der Menopause noch jahrzehntelang lebt, auf dieses höhere Lebensalter hat sich die Evolution also nicht groß ausgewirkt. Aber es hat immer schon einzelne Individuen gegeben, die sehr alt wurden. Dazu gibt es mehrere Hypothesen: Die Großmutterhypothese sagt, dass es der Verbreitung der eigenen Gene dient, wenn man sich auch noch um die Enkel kümmern kann. Die Mutterhypothese besagt, dass die Menopause gut ist, um die Mütter zu schützen – die Wahrscheinlichkeit, im Kindbett zu sterben, war ziemlich hoch. Dagegen lohnte es sich, auch nach der Menopause noch zu leben, um für die Kinder zu sorgen, die schon da waren. Ein weiteres Erklärungsmodell ist das Gruppengedächtnis: Es ist für das Überleben einer Gruppe von Vorteil, wenn sich etwa eine Elefantenkuh erinnert, wo sie bei der letzten Dürre vor vierzig Jahren Wasser gefunden hat. Das lässt sich auch auf menschliche Populationen übertragen: Alte Menschen wurden gebraucht, weil sie sich an Naturkatastrophen erinnerten und daran, wie sie sich damals gerettet haben.

 

Und wie ist es mit dem Tod? Könnte man sagen, dass der Tod auf Populationsebene keine Folge des Alterns ist?

 

Annette Baudisch: Der Tod ist in erster Linie eine Folge des Lebens. Auch wenn die Sterberate nicht steigt, bedeutet das nicht, dass die Individuen nicht sterben. Die Welt wird nicht eines Tages nur noch von Hydra bevölkert sein. Egal, wie sich die Sterberate im Laufe des Lebens entwickelt: Am Ende sterben wir alle.

 

 

Julia Offe

Bilder: willma... / photocase.com

            MPI für demografische Forschung Rostock



Letzte Änderungen: 04.03.2013