Editorial

Deutschlands Top-Erreger

Werden Krankheitserreger tatsächlich entsprechend ihrer Wichtigkeit wahrgenommen, überwacht und epidemiologisch erforscht? Dieser Frage gingen Wissenschaftler vom Berliner Robert Koch-Institut (RKI) in einer umfassenden Erhebung nach. Dabei förderten sie einige Überraschungen zutage.

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(22. November 2011) Für ihre Untersuchung unterzogen die Forscher um den Epidemiologen Gérard Krause vom Robert Koch-Institut (RKI) insgesamt 127 in Deutschland vorkommende Bakterien, Viren, Einzeller, Würmer und Parasiten einer neu entwickelten Ranking-Methode. Das Verfahren baut auf Vorarbeiten von Gérard Krause aus dem Jahr 2004 auf. Krause leitet am RKI die Abteilung für Infektionsepidemiologie, seit diesem Sommer außerdem am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) die Abteilung Epidemiologie. Sein Ziel ist herauszufinden, wie sich Infektionen ausbreiten und wie man der Verbreitung entgegenwirken kann.

 

„Es ist sinnvoll die Bedeutung von Erregern in mehrjährigen Abständen zu überprüfen, um festzustellen ob sich Verschiebungen ergeben haben“, sagt der Co-Autor der Studie Andreas Gilsdorf, wissenschaftlicher Koordinator für internationale Kooperation in der Abteilung für Infektionsepidemiologie am RKI. Für die aktuelle Untersuchung (PLoS ONE 6(10): e25691), die im Epidemiologischen Bulletin des RKI auch auf Deutsch veröffentlicht wurde, wählte Krauses Team 127 Erreger aus, die entweder meldepflichtig sind, Potential für eine absichtliche Freisetzung bieten oder im Handbuch für Infektionskrankheiten stehen.

Um die Wichtigkeit der Erreger für die landesweite Krankheitsüberwachung sowie die epidemiologische Forschung zu ermitteln, stellten sie zunächst zehn Bewertungskriterien von Sterblichkeit bis Häufigkeit auf. Mit Hilfe von 72 weiteren Experten aus wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Referenzlaboratorien und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst gewichteten sie die Faktoren auf einer Skala von 1 bis 10. Die Fachleute beurteilten die Sterblichkeit als wichtigstes Kriterium, danach folgten in abnehmender Reihenfolge zum Beispiel Präventionsmöglichkeiten, Chronifizierung, Therapiemöglichkeiten, Arbeits- und Schulausfall und zuletzt die öffentliche Wahrnehmung.

Die zu bewertenden Erreger erhielten dann pro Kriterium Noten von -1 über 0 bis +1. Beim Kriterium „Therapiemöglichkeit“ beispielsweise gab es eine -1, wenn eine Therapie gegen den Erreger entweder selten nötig ist oder aber gut etabliert ist, eine 0, wenn eine vorhandene Therapie deutlich verbessert werden muss und eine +1, wenn Therapiebedarf besteht und keine effektive Therapie vorhanden ist. Diese Werte wurden mit den Gewichtungsfaktoren der Kriterien multipliziert und anhand der errechneten Gesamtsumme gruppierten Krause und Kollegen die Erreger in vier Kategorien ein: höchste, hohe, mittlere und niedrige Priorität.

Der höchsten Stufe wurden 26 Erreger zugeordnet. Viele von ihnen, wie HIV, Influenzaviren, Legionella pneumophila, Masernviren oder Mycobacterium tuberculosis, nehmen bereits im öffentlichem Bewusstsein und im Infektionsschutz großen Raum ein. Neu aufgenommen in diese Gruppe wurden das bislang in den Gesundheitswissenschaften weniger wahrgenommene Magengeschwür und Magenkrebs verursachende Bakterium Helicobacter pylori, der Nahrungsmittelinfektionen auslösende Campylobacter spp. und das Respiratorische Synzytial Virus (RSV). RSV ist für den Großteil der Atemwegserkrankungen von Säuglingen und Kleinkindern verantwortlich. „Unsere Analyse hat so dazu beigetragen auch Erreger als wichtig zu identifizieren, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen, wie im Fall des RSV sehr junge Kinder“, so Gilsdorf.

Auch die immer öfter im Krankenhaus übertragenen antibiotikaresistenten Erreger wie Klebsiella spp. wurden der höchsten Prioritätsstufe zugeordnet. „Die Bakterien gehören zur normalen menschlichen Darmflora“, erklärt Gilsdorf. „Bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem, zusätzlichen Erkrankungen, kleinen Kindern oder Frühchen können diese Keime jedoch tödlich wirken.“ Auch Hantaviren, die zu Nierenversagen führen können und in den letzten Jahren auf der Schwäbischen Alb oder im Bayrischen Wald häufiger auftraten, wurde höchste Priorität zugewiesen.

Selten auftretende, eingeschleppte tropische Erreger wie Ebola-, Lassafieber-, Gelbfieber- sowie West-Nil-Virus genießen hohe Priorität. „Aufgrund der Schwere der Erkrankung sowie der aufwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr – etwa der Rückverfolgung aller Insassen eines Flugzeuges – müssen hier auch Einzelfälle epidemiologisch gut erfasst werden“, teilt Gilsdorf mit. Andere, überwiegend in südlichen Ländern auftretende Erreger, wie der Malariaerreger Plasmodium spp. oder der Choleraerreger Vibrio cholerae, werden in der RKI-Liste unter mittlerer beziehungsweise niedriger Priorität platziert. Auch wenn diese Erreger aus epidemiologischer Sicht weniger relevant sind: Ihre klinische Erforschung sei für die Entwicklung von Therapien und Impfstoffen natürlich dennoch wichtig, betont der Mediziner und Infektionsepidemiologe Gilsdorf.

„Unsere Studie soll dabei helfen die epidemiologische Forschung dem aktuellen Bedarf anzupassen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen entsprechend einzusetzen“, sagt Gilsdorf. So sollen künftig bisher unterrepräsentierte Aspekte gestärkt und Bemühungen um weniger relevante Themenschwerpunkte gedrosselt werden. Konkret werden die Studienergebnisse laut Gilsdorf beispielsweise auch in die thematische Ausrichtung Nationaler Referenzlabore eingehen. Das von den Berliner Epidemiologen entwickelte transparente und objektive Priorisierungsverfahren ließe sich auch auf andere Fragestellungen anpassen und anwenden – etwa um herauszufinden, ob sich die klinische Erforschung von Erregern an ihrer tatsächlichen Bedeutung für das Gesundheitswesen orientiert.

 

 

Melanie Estrella
Bild: dedMazay - Fotolia.com



Letzte Änderungen: 10.12.2011
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