Editorial

„Zombie-Artikel“

Die Mehrheit aller zurückgezogenen Artikel wird fröhlich weiter zitiert. Und das überwiegend positiv.

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(26. Oktober 2012) Beginnen wir mit einem fiktiven Szenario:

 

Vor über zehn Jahren publizierte Professor Ehrlicher einen Artikel, der sofort für erhebliches Aufsehen sorgte. Das Thema war mega-hip, und die ersten Zitierungen ließen nur kurz auf sich warten. Doch dann kam der Knall: Als ein frischer Postdoc gewisse Experimente mit neuen Reagenzien nachkochte, sahen die Resultate plötzlich ganz anders aus. Kurze Zeit später war klar, dass Ehrlicher et al. ihr Paper zurückziehen mussten. Ein damals verwendetes Schlüssel-Reagenz hatte zu einem großen Teil „falsche“ Moleküle isoliert.

 

Ehrlicher meldete das Malheur dem Journal – und bereits in der nächsten Ausgabe erschien die „Retraction Note“. Auch die Online-Version des Papers erhielt umgehend einen deutlichen Vermerk, dass es zurückgezogen wurde. Und die einschlägigen Literatur-Datenbanken führten das Paper ebenfalls sehr bald als „Retracted“.

 

Dennoch wurde das Unglücks-Paper nach der Retraktion von den Kollegen weiterhin zitiert – ganze 206mal bis heute. Und Ehrlicher ärgert sich maßlos darüber: „Die Daten in dem Paper sind falsch, eigentlich existiert es nach der Retraktion gar nicht mehr. Trotzdem wird es weiter zitiert, obwohl wir andere Artikel mit korrekten Daten nachgeliefert hatten. Und was das Schlimmste ist: viele zitieren es bis heute nicht irgendwo am Rande, sondern vielmehr an ziemlich zentraler Stelle ihrer eigenen Arbeiten. Bisweilen berufen sie sich gar darauf als Basis für ihre Nachfolge-Projekte. Ich kann das einfach nicht fassen. Ich befürchte, dieser ‚Zombie-Artikel’ wird mich bis zu meiner Emeritierung verfolgen."

 

Unser fiktiver Professor Ehrlicher dürfte bei weitem nicht der einzige sein, den solche zurückgezogenen „Zombie-Artikel“ mit ihrem hartnäckigen „Zitierungsleben“ plagen.

 

Im letzten Jahr präsentierten etwa die drei US-Informationswissenschaftler John Budd, Zach Coble und Katherine Anderson auf der Konferenz der Association of College and Research Libraries (ACRL) Daten einer entsprechenden Studie, die nachfolgend unter dem Titel „Retracted Publications in Biomedicine: Cause for Concern“ auf den ACRL-Seiten online erschienen. Insgesamt werteten die Autoren dafür 1.112 zurückgezogene Artikel aus den Jahren 1997-2009 aus; 58 % dieser Retraktionen erfolgten wegen zugegebener (44 %) oder sehr wahrscheinlicher (14 %) Datenmanipulation.

 

Fast alle diese Artikel wurden laut den Autoren nach ihrer Retraktion weiterhin zitiert. Leider gaben sie allerdings nicht die Gesamtzahl dieser „post-retraktionalen“ Zitierungen an, sondern widmeten sich vielmehr einer Auswahl von 391 Artikeln, die jeweils eines der 1.112 Paper noch zitierten, als es bereits mehr als ein Jahr zurückgezogen war. Nur 22 davon vermerkten im Artikel das zitierte Paper als zurückgezogen, während satte 94 % die Retraktion mit keinem Wort erwähnten.

 

Ebenfalls stichprobenartig widmeten sich die Autoren dem Jahr 2005. Insgesamt zählten sie für diesen Zeitraum 67 zurückgezogene Artikel, ab Jahresfrist nach der Retraktion wurden diese bis Ende 2010 zusammen noch ganze 965mal zitiert. Eines dieser 2005er-Paper sammelte gar 126 „post-retraktionale“ Zitierungen – nur in acht Fällen jedoch gaben die Autoren mit dem Zitat an, dass die referrierte Quelle bereits zurückgezogen war.

 

Sicher nicht völlig erschöpfend, was die Autoren da zum Thema bieten – die Tendenz aus deren Stichproben scheint allerdings ziemlich klar: Viele, wenn nicht die meisten zurückgezogenen Artikel wanken noch lange als ziemlich lebendige Zombies durch die wissenschaftliche Literatur.

 

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 16.11.2012
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