Editorial

Laborgeschichten (13): Von Lechts nach Rinks

Und ehe er sich versah, hatte er genau falsch herum pipettiert...

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(13. November 2012) Was hatte Doktorand Zerstreu gelacht, als Kollegin Verpeil mittags in der Kaffeeküche vor lauter aufgeregter Diskussion zielsicher das Gefäß neben dem Zuckerstreuer griff – und eine Sekunde später ihren Kaffee pfefferte. „Wenn sie ihre Experimente auch so macht, bricht sie womöglich noch den Rekord für die längste Doktorarbeit“, kalauerte er später immer noch mit seinem Diplomanden über Verpeils scharfes Missgeschick.

 

Inzwischen war es Abend geworden. Zerstreus Gähnattacken wurden immer länger und die Pausen dazwischen kürzer. Aber das Ende war in Sicht. „Nur noch die blöden Colis transformieren und dann nichts wie raus hier“, dachte er und starrte die beiden Eppis vor sich an. Eines enthielt die kompetenten Coli-Zellen, das andere die aufgetaute DNA-Stammlösung mit dem Transformationskonstrukt. „Zellen links, DNA rechts“, brabbelte Zerstreu vor sich hin – und musste erneut herzhaft gähnen. „Außerdem hat die Stammlösung ein Papieretikett, das Coli-Röhrchen nicht. Heißt also: 10 µl DNA-Lösung von rechts in die 100 µl Bakteriensuspension links.“

 

Zerstreu streckte sich noch einmal aus auf seinem Stuhl, gähnte – und schritt zur Tat. Sterile Spitze auf die Pipette und – ... „Götze, Göööötze macht das 2:1 für den BVB im Bernabeu Stadion“, dröhnte es plötzlich aus dem Radio. „Bringen die Dortmunder den Königlichen von Real Madrid tatsächlich die erste Champions-League-Heimniederlage seit über drei Jahren bei?“ „Jaaa“, schrie Zerstreu spontan als Antwort auf die Frage durch das schon seit geraumer Zeit entvölkerte Labor – und grinste von einem Ohr zum anderen.

 

Keine Sekunde später gefror sein Grinsen. Zerstreu starrte auf seine Pipettenhand, von dort wanderte sein Blick weiter den Pipettenhals hinab. Und als er bei der Pipettenspitze angekommen war, sprang ihm sein Herz mit einem Satz bis unter die Schädeldecke: die Spitze steckte im rechten Röhrchen – und war leer! Sein Daumen drückte immer noch den Kolben durch. Die Indizien ließen folglich keinen Zweifel zu: Zerstreu hatte genau falsch herum pipettiert – 10 µl Bakteriensuspension von links in die DNA-Stammlösung rechts.

 

„Oh, nein“, schrie er verzweifelt die Labordecke an – obwohl seine Dortmunder immer noch führten. „Ich hab’ die Stammlösung kontaminiert. Was mach’ ich jetzt?“ Zerstreu dachte angestrengt nach, aber es gab nur eine Möglichkeit: Bakterien schnellstens aus der Stammlösung abzentrifugieren, und mit der kontaminierten DNA aus dem Überstand die restlichen kompetenten Zellen transformieren. „Dann heißt es Daumen drücken, dass ich ausreichend positive Transformanden bekomme, um am Ende genug Plasmid für eine neue Stammlösung rausreinigen zu können“, sagte er fast flehend zu sich selbst – und machte sich mit grimmiger Entschlossenheit ans ungeplante Werk...

 

Zwei Tage später offenbarten ihm seine Bakterienplatten, dass der Rettungsversuch erfolgreich war. Die Transformation hatte geklappt, und die Reinigung war nur noch Formsache. Zerstreu würde sich und seinen Kollegen also eine frische und saubere Stammlösung liefern können. Zum Glück hatte in der Zwischenzeit niemand sonst das DNA-Konstrukt gebraucht, das für nahezu alle Projekte in der Gruppe so wichtig war. Sein Fauxpas würde also völlig unbemerkt bleiben.

 

An dem fatalen Abend musste Zerstreu übrigens bis weit nach Mitternacht auf seine nächste Gähnattacke warten. Und dass Dortmund während seiner DNA-Rettungsaktion noch den Ausgleich kassierte, erfuhr er erst am nächsten Morgen.

 

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 25.11.2012
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