Editorial

Mehr Mut zur Klarheit!

Gegen die Auswüchse von Big Science zu protestieren erfordert Mut und klare Positionen. Ein Kommentar von Hans Zauner.
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(25. April 2013) Dan Graur, Professor für molekulare Evolutionsbiologie und Humboldt-Preisträger, nahm kein Blatt vor den Mund. Zusammen mit einigen Kollegen zerriss der Forscher aus Houston kürzlich ein prestigereiches Großprojekt der Genomik nach Strich und Faden. ENCODE (von ENCyclopedia ODNA Elements), so der Name des fraglichen Projekts, ist der Versuch, einen Katalog der DNA-Elemente des menschlichen Genoms samt ihrer Funktionen zu erstellen. Über 200 Millionen Dollar hat das Unterfangen verschlungen, mehr als 440 Forscher arbeiten daran.

Graur und Kollegen schrieben also im Journal Genome Biology and Evolution, die Methoden von ENCODE seien unsinnig, die Ergebnisse unbrauchbar und zudem von einer skrupellosen PR-Maschine in skandalöser Weise aufgeblasen.

Den Inhalt dieser Kritik habe ich bereits auf meinem eigenen Blog Panagrellus ausführlich besprochen. Hier und heute geht es mir vielmehr um Stilfragen: Wieso eigentlich sollen Wissenschaftler ihre Meinungsverschiedenheiten immer diplomatisch und höflich austragen? Und es geht um die Auswüchse von Big Science: Haben Freigeister und Querdenker in der Welt der durchorganisierten, prestigeträchtigen und politisierten Großprojekte überhaupt noch eine Chance? Wird ihre Kritik überhaupt gehört?

Bereits vor Graur hatten zwei andere Forscher, Sean Eddy und W. Ford Doolittle, unabhängig voneinander ähnliche Argumente gegen ENCODE veröffentlicht. Allerdings war ihre Kritik so sachlich und „professionell“ vorgetragen, dass kaum jemand davon Notiz nahm. Graur dagegen traf danach mit seinem frischen Ansatz offenbar einen Nerv.

Zudem weiß der Evolutionsgenetiker aus Houston die Geschichte der Wissenschaft durchaus auf seiner Seite: So führt er etwa die deutlichen Worte des Evolutionsbiologen Thomas Huxley („Darwin’s Bulldog”) an, oder zitiert den öffentlich ausgetragenen Streit der Populationsgenetiker Ronald A. Fisher und John B.S. Haldane. Trotz – oder gerade wegen – ihrer Schärfe waren diese Auseinandersetzungen wissenschaftlich fruchtbar und wirken bis heute nach.

Graur hat deshalb einen anderen Verdacht: Viele Forscher würden gerne deutlicher Kritik an ENCODE und anderen möglichen Verfehlungen von Big Science üben – wagen es aber nicht, aus Furcht um den Verlust ihrer Forschungsgelder und ihrer Karrierechancen. Beispielsweise hat sich der oben erwähnte Sean Eddy, obwohl selbst ENCODE-Kritiker, in Current Biology vom Ton der Graurschen Breitseite distanziert. Worauf dieser wiederum hinter Eddys Höflichkeit blanken Opportunismus wittert.

Ob Graur damit recht hat oder übertreibt, will ich gar nicht beurteilen. Aber einige der Punkte, die Graur auf seinem Blog Judge Starling als Reaktion auf Eddys Beitrag anspricht, sind durchaus bedenkenswert – und ich wollte sie den Lesern des Laborjournals nicht vorenthalten.

Big Science, also Großprojekte wie ENCODE, haben die Tendenz, die beteiligten Forscher zu technischen Hilfskräften zu degradieren – Doktoranden, Postdocs und ganze Arbeitsgruppen. Der einzelne Forscher wird ein Rädchen im Masterplan; ein Rädchen, das zu funktionieren hat, ohne viele Fragen zu stellen.

Und wie unsere geschätzten Großbanken, so wird auch Big Science schnell „Too Big to Fail“ – also zu groß und zu wichtig, um sie fallen zu lassen. Jahrelang hat man den Politikern Forschungsgelder aus der Tasche geleiert mit dem Versprechen, mit den Ergebnissen des Projekts wird man endlich den Krebs oder was auch immer besiegen. Da will man nicht zugeben müssen, dass das teure Unterfangen am Ende weit weniger Erkenntnis abwirft als erhofft – und eigentlich von Anfang an Designschwächen hatte. So geht es also einfach immer weiter, und am Ende muss die PR-Abteilung die dürren und zweifelhaften Ergebnisse als großen Durchbruch verkaufen. ENCODE ist ein Lehrstück für dieses Drama.

Kritiker von Big Science gelten auch schnell als Querulanten, die dem Ansehen (und der Finanzlage) des eigenen Forschungsgebiets schaden. Wie kommt ein aufmüpfiger Quergeist an Drittmittel, wenn fast alle potentiellen Gutachter seiner Anträge und Paper zum kritisierten Großkonsortium gehören? Und wenn auch die Drittmittelgeber selbst eine maßgebliche Rolle im fraglichen Unterfangen spielen? Bei ENCODE waren die US-National Institutes of Health (NIH) massiv beteiligt – sowohl finanziell als auch forschungspolitisch. Welcher US-Arbeitsgruppenleiter kann es sich erlauben, sich mit dieser Institution anzulegen?

Den Boten erschlagen, die Nachricht ignorieren: das ist eine von der Antike bis ENCODE erprobte Strategie, Probleme erst mal abzuwälzen. Detlef Weigel, Max Planck Direktor in Tübingen, lud Dan Graur und den ENCODE-Protagonisten John Stamatoyannopoulos umgehend ein, in einem Beitrag für das Open Access-Journal eLife ihre Argumente auszutauschen (Weigel ist einer der Editoren des Journals). Stamatoyannopoulos war offenbar nicht interessiert, was Graur zu einer neuerlichen Attacke auf seinem Blog provozierte: The ENCODE Soviet and its Politburo are not interested in discussing their work“.

Das Trauerspiel um ENCODE zeigt: Die zunehmende Dominanz von Big Science führt dazu, dass Forschungsgelder in schwindelerregenden Beträgen unwidersprochen in wissenschaftlich fragwürdige Prestigeprojekte fließen.

Die Millionen, die Big Science und ihr williges Hilfspersonal ausgeben, fehlen am Ende der Small Science – sprich den Freigeistern unter den Wissenschaftlern. Viele individuelle Kleinprojekte sind Politik und Öffentlichkeit weit schwerer zu vermitteln als ein „Masterplan gegen Krebs“, bringen aber allzu oft die wirklich bedeutenden Einsichten. Und vielleicht am Wichtigsten: Small Science bringt Nachwuchswissenschaftler hervor, die selbständig Hypothesen aufstellen, kluge Experimente entwerfen und „etabliertes Wissen“ hinterfragen. Die hierarchische Struktur von Big Science dagegen fördert einen Forschertypus, der effizient Aufträge abarbeitet statt kreative Fragen zu stellen.

Das soll jetzt nicht heißen, dass wir die koordinierten Großprojekte nicht brauchen. Nicht einmal Fundamentalkritiker wie Professor Graur bezweifeln, dass beispielsweise das Humangenom-Projekt nötig und sinnvoll war. Zumal Kollaboration und Koordination sowieso besser sind als isoliert vor sich hin zu werkeln. Und natürlich sind die Mitarbeiter dieser Projekte auch nicht allesamt fremdgesteuerte Arbeitsdrohnen.

Aber kein Gruppenleiter, keine Professorin, kein Postdoc und keine Doktorandin sollten sich zurückhalten müssen, wenn er oder sie ein faules Ei riechen.

Dazu fällt mir noch eine Anekdote ein, die ich vor ein paar Jahren auf einer großen internationalen Konferenz in Paris erlebt habe. Die Konferenz fand im Stadtzentrum statt, eine einzelne Session hatten die Organisatoren jedoch an eine Vorort-Uni verlegt, um den hübschen Campus zu präsentieren. Dazu kamen noch organisatorische Schwächen, weshalb am Ende trotz hochkarätiger Invited Speakers peinlich wenige Zuhörer den Weg zu der Session fanden. Der erste Sprecher des Tages, ein französischer Doktorand eben dieser Uni, begann daher seinen Vortrag mit einer Schimpftirade. „Wenn man unfähig ist, einen Kongress zu organisieren, dann lässt man es eben bleiben!“, warf er den Professoren seiner Uni an den Kopf – in Anwesenheit der internationalen Elite des Fachs.

Als Angestellter eines Unternehmens hätte er nach diesem Auftritt seinen Job verloren, aber Wissenschaftler müssen sich zum Glück nicht den Mund verbieten lassen.

Ein etwas albernes Sprichwort behauptet „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“. Analog dazu könnte man formulieren: „Mut zur Klarheit ist die Höflichkeit des Wissenschaftlers“.



Letzte Änderungen: 12.07.2013