Editorial

Von entdeckten und bedrohten Arten

15.589 Tier- und Pflanzenarten stehen auf der frisch veröffentlichten Roten Liste 2004 der bedrohten Arten. Das sind 3.330 mehr als vor einem Jahr. Dennoch werden in den nächsten Jahren dank neuer Konzepte, besserer Methoden und üppigeren Mitteln weitaus mehr Spezies neu im Artenkatalog erscheinen als von ihm verschwinden. Wenn auch einige womöglich nur für kurze Zeit.

(06.12.2004) Die meisten Früchte bringt das gesteigerte Interesse am "Arten finden" zurzeit im Meer. Bereits vor einem Jahr verkündete "Genom-Guru" Craig Venter, dass seinen Forschern im Rahmen seines Sargassomeer-Metagenomprojekts die Sequenzen von mindestens 1.800 neuen Bakterienarten ins Netz gegangen seien. Jetzt legt ein Volkszählungs-ähnliches Mammutprojekt namens "Census of Marine Life" nach: In den vergangenen zwölf Monaten, so schreibt der Zensus in einem Zwischenbericht, wurden 13.000 neue marine Arten registriert, darunter 106 bis dahin unbekannte Fischarten.

Der Zensus (www.coml.org) ist ein gigantisches Meeresinventur-Programm, das im Jahr 2000 begann. Hunderte Forscher aus mehr als siebzig Ländern wollen bis 2010 alles erfahrbare Wissen über das Leben in den Meeren weltweit sammeln und erkunden - von den Eismeeren der Arktis und Antarktis bis zu den tropischen Meeren, von Einzellern und Algen über Kopffüßler und Fische bis zu den Meeressäugern, von den lichtdurchfluteten oberen Schichten bis hinunter zum finsteren Tiefseeboden. Eine Milliarde US-Dollar haben verschiedene Staaten, Organisationen und Stiftungen dafür bereit gestellt.

Der Nachholbedarf ist groß. Denn von den bis heute knapp 1,8 Millionen bekannten Arten leben nur knapp 260.000 im Meer. Schätzungen gehen davon aus, das dies nicht einmal ein Zehntel der "wahren" Artenvielfalt in den Meeren sei. Dementsprechend hat die "Meeres-Volkszählung" inzwischen Tempo aufgenommen: "90 Prozent der Arten, die wir finden, sind neu", berichtet beispielsweise Pedro Martinez Arbizu, Leiter des Zentrums für Marine Biodiversität in Wilhelmshaven und Koordinator des deutschen Programms beim Zensus.

Und folgerichtig prognostiziert der Zensus einen starken Artenzuwachs für die nächsten Jahre. Die Zahl der bekannten Meeresfisch-Arten soll etwa bis zum Abschluss des Projekts von derzeit 15.482 auf über 20.000 anwachsen. Bei den Zooplankton-Arten erwarten die Forscher im gleichen Zeitraum gar eine Verdopplung auf 14.000.

In anderen Bereichen geht es auch ohne Großprojekt voran. So berichtet Rainer Fröse vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften, dass die von ihm gepflegte Datenbank "fishbase" (www.fishbase.org) in den letzten zwölf Monaten zusätzlich zu den 106 neuen Meeresfisch-Arten des Zensus noch knapp hundert neue Spezies von Süßwasserfischen aufgenommen habe.

Bei den Insekten pendeln die Schätzungen inzwischen gar um etwa 10.000 neu beschriebene Arten pro Jahr. Was nicht unbedingt wundert, geht man doch davon aus, dass man von den heute vermuteten neun Millionen Insektenarten erst eine gute Million kennt. Wirbeltiere dagegen kennt man heute etwa 53.300 verschiedene, und schätzt, dass es derzeit auch nicht mehr als 62.000 Arten gibt. Mit den weitaus meisten Neu-Beschreibungen ist dabei bei den Fischen zu rechnen - siehe oben.

Bei den Amphibien dagegen scheint es dramatisch in die entgegen gesetzte Richtung zu gehen: Fast 2.500 der 5.743 bekannten Amphibienarten gehen derzeit in ihren Beständen zurück, 1.856 Arten - ein knappes Drittel also - müssen als "gefährdet" eingestuft werden. Auch dies ist das Ergebnis einer soeben beendeten Großstudie namens "Global Amphibian Assessment", die Daten von 500 Forschern aus 60 Nationen auswertete (Science 306, S. 1783). Da zudem für ein weiteres Drittel der Amphibienarten nicht genügend Daten vorlagen um deren Status einzuschätzen, schließt Bruce Young, einer der Koordinatoren, dass die Amphibien weltweit "in ziemlichen Schwierigkeiten stecken".

Die aktuelle Goldgräberstimmung durch Projekte wie den "Zensus des marinen Lebens" verschleiert denn auch womöglich, dass es dem marinen Leben insgesamt ähnlich geht. Vom Rückgang der Plankton-Vorkommen wird bereits seit einigen Jahren berichtet. Zudem verkündete die World Conservation Unit (IUCN) nun auf der Internationalen Artenschutzkonferenz in Bangkok, dass neben den Amphibien gerade die Fische auf der diesjährigen Roten Liste der bedrohten Arten dramatisch zugenommen hätten.

Nach simpler Logik ist also zu befürchten, dass in den nächsten Jahren noch mehr Fische auf die Rote Liste kommen. Nicht nur Fische, überhaupt wird die Zahl der bedrohten Tier- und Pflanzenarten noch stärker zunehmen als bisher. Allerdings nur teilweise aus dem Grund, dass die Bestände bekannter Arten umso schneller schwinden. Vielmehr zeigt die jüngste Erfahrung, dass von den Arten, die heute neu entdeckt werden, durchaus einige umgehend auf die Rote Liste "müssen". Und wo viel neu entdeckt wird,...

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 11.12.2004