Editorial

Wenn Evidenz lästig ist

(14.11.2014) Die neue EU-Kommission will keinen Chief Scientific Advisor (CSA) mehr. Nicht nur verstummt damit Anne Glovers deutlich hörbare Stimme in Brüssel, es wird auch keinen Nachfolger geben. Ein herber Verlust, meint Brynja Adam-Radmanic.
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In den letzten drei Jahren gab es in Brüssel erstmals eine eigenständig und proaktiv tätig werdende wissenschaftliche Beratung der Kommission. Anfang 2012 hatte Junckers Vorgänger Manuel Barroso eine direkt unter ihm angesiedelte Beraterstelle geschaffen – und sie mit der Molekularbiologie-Professorin Anne Glover besetzt, die zuvor wissenschaftliche Chefberaterin der schottischen Regierung war.

Glover hat diesen Posten trotz knapper Ressourcen innerhalb kurzer Zeit mit Leben gefüllt und sich großen Rückhalt in den europäischen Wissenschaftsverbänden und -akademien aufgebaut. Das zeigte sich vor allem im Sommer diesen Jahres, als sie von NGOs der Umweltbewegung massiv attackiert wurde. In öffentlichen Briefen machten diese ab Mitte Juli Front gegen Glover und forderten genau das, was nun Wirklichkeit geworden ist: die Abschaffung ihres Postens.

In einem Beitrag in meinem eigenen Blog, der Wissensküche, habe ich damals die Argumentation der NGOs scharf kommentiert, mich aber auch von der Solidarität begeistern lassen, mit der sich alle führenden europäischen Wissenschaftsorganisationen in Form von Unterschriften und offenen Briefen hinter Glover stellten und eindringlich für den Erhalt ihrer Stelle aussprachen.

Dass es die Stelle des Chief Scientific Advisors in der neuen Kommission trotzdem nicht mehr geben wird, ist allerdings nicht allein der Meinungsmacht der Umweltorganisationen geschuldet. Es zeigt vor allem, dass der Rückhalt für diese Art der Beratung in vielen europäischen Ländern eher gering ist – sowohl in der Öffentlichkeit, als auch bei den Politikern selbst.

Der über Youtube verfügbare Vortrag, den Glover Ende August auf der Konferenz "Science Advice to Governments" in Auckland hielt, enthält zahlreiche Beispiele von Widerständen und Feindseligkeiten, die ihr aus EU-Verwaltung und Politik entgegenschlugen. Diese lassen sich zusammenfassen in der Aussage, dass jemand, der sich nur der wissenschaftlichen Evidenz verpflichtet fühlt, im EU-Betrieb äußerst lästig zu sein scheint (plenary address: part 1, part 2).

Denn während alle anderen Akteure in Verwaltungshierarchien eingebunden sind, zudem der Parteidisziplin genauso verpflichtet wie den besonderen Bedürfnissen ihrer Heimatländern, konnte sich Glover freier äußern und tat das auch. Damit eckte sie vielfach an. Während Politikberatung sonst oft erst hinzueilt, wenn den Regierenden selbst klar wird, dass sie wissenschaftlichen Rat brauchen, steht Glover für eine Politikberatung, die von sich aus und für die Öffentlichkeit sichtbar den Stand des Wissens in die Politik trägt. Ein steter Quell der Provokation.

Es ist diese selbstbewusste Haltung und diese Prominenz wissenschaftlicher Beratung, der mit der Entscheidung Junckers und seiner Kommission eine deutliche Absage erteilt wurde. "Science Advisors" dieser Art galten lange als typisch angelsächsischer Weg in der Politikberatung. Dieser Weg setzt sich aber seit einigen Jahren in immer mehr Ländern als ein bewährtes und für die Öffentlichkeit transparentes Modell durch. Die Kommissions-Entscheidung läuft daher klar dem internationalen Trend entgegen.

Beschwichtigend heißt es aus Brüssel, wissenschaftliche Beratung sei selbstverständlich nicht abgeschafft, sondern würde lediglich in einer anderen Form stattfinden. Übersetzt heißt das aber ziemlich sicher: Nicht mehr als Chefberatung, nicht mehr in der Hand einer einzelnen öffentlichkeitswirksamen Figur und nicht mehr mit der Möglichkeit, so eigenständig zu agieren, wie es Glover in den letzten drei Jahren möglich war.

Begrüßen werden das diejenigen, die traditionell nur solche Evidenz suchen und akzeptieren, die zu ihnen passt – zu den Interessen der größten Branchen des eigenen Landes oder zur präferierten Glaubensrichtung der Wähler oder zur eigenen, verzerrten, feindbildgeprägten Ideologie (wie die Umwelt-NGOs, die Glover im Sommer attackierten). Denn ohne die prominente Figur eines Chief Scientific Advisor wird das Ignorieren des wissenschaftlichen Konsenses wieder einfacher.

Wer sich aber eine Politik auf der Grundlage von Werten UND Fakten wünscht, darf zu Recht trauern um die verpasste Chance, eine prominente Stimme der Wissenschaft als eigenständigen, festen und neutralen Gesprächspartner in der EU-Politik zu etablieren.

 

Brynja Adam-Radmanic

 

Foto: Anne Glover, via  F4E



Letzte Änderungen: 14.01.2015