Editorial

Prostatakrebs: "Vorsorge empfehle ich auf jeden Fall"

(4.11.15) Im Oktoberheft stellen wir Urologen vor, die in Sachen Forschung vorn dabei sind. Darunter auch der Prostatakrebs-Experte Axel Heidenreich. Ein Interview von Mario Rembold
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Bis August hatte Heidenreich einen Lehrstuhl an der Aachener Uniklinik, jetzt ist er einem Ruf nach Köln gefolgt und an der dortigen Uniklinik Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit erforscht er Therapien für Prostatakarzinome in fortgeschrittenen Stadien.

Laborjournal: Beim Thema ‚Prostatakrebs’ heißt es einerseits, dass die Vorsorge extrem wichtig sei. Andererseits habe ich auch schon skeptische Urologen gehört, die betonen, dass man eben nicht jeden Prostatakrebs behandeln sollte, weil man damit mehr Schaden als Nutzen anrichten könne. Wann sollte man ein Karzinom der Prostata nun therapieren und wann nicht?

Heidenreich: Die eine Frage ist: Wann muss ich überhaupt einen möglicherweise vorhandenen Prostatakrebs diagnostizieren? Und die zweite Frage: Wenn ich ihn dann diagnostiziert habe, wann muss ich ihn aktiv behandeln? Zur ersten Frage: Ob man eine Diagnostik in Form eine Biopsie vornimmt, ist im Wesentlichen abhängig vom PSA-Wert [Prostataspezifisches Antigen]. Und zwar nicht von einem einmal bestimmten PSA-Wert, sondern von dem Verlauf des PSA-Werts über die Zeit.

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Was bedeutet das im Einzelfall?

Heidenreich: Idealerweise würde man sagen, ein Mann im Alter von ungefähr 45 bis 50 Jahren sollte sich seinen ersten PSA-Wert bestimmen lassen. Falls der PSA-Wert dann unter 1 liegt, wissen wir: das Risiko, dass der Betroffene in den folgenden 25 bis 30 Jahren Prostatakrebs entwickelt, den man behandeln muss, liegt in einem verschwindend kleinen Bereich. Diesen Männern würde ich sagen, dass sie relativ beruhigt sein können. Wenn man innerhalb der nächsten vier bis acht Jahre die nächste Vorsorge macht, wird man überhaupt nichts verpassen, was wichtig zu erkennen wäre.

Wenn im Alter um die 50 der PSA-Wert aber über 1 liegt – egal, ob das 1,5 oder 2 ist – dann wissen wir, dass das Risiko, dass der betroffene Mann in den nachfolgenden 25 Jahren ein behandlungsbedürftiges Karzinom entwickelt, ungefähr 20 Mal höher liegt als bei den Männern mit PSA-Werten unter 1. Diesen Mann würde ich alle zwei Jahre kontrollieren wollen. Und wenn man dann sieht, dass der PSA-Wert plötzlich ansteigt und sich vielleicht innerhalb eines Jahres verdoppelt hat, dann wissen wir: da tut sich was innerhalb der Prostatadrüse.

Typische Biopsie: "mehr oder weniger blind in der Prostata rumstochern"

Wie würde man dann nach aktuellem Stand der Forschung vorgehen?

Heidenreich: Wir müssen dann erst mal genauer nachschauen, um ein behandlungsbedürftiges Karzinom nicht zu übersehen. Eine Möglichkeit wäre die typische Biopsie. Das ist eine relativ ungezielte Maßnahme, wo Sie zwar um die 12 Biopsien entnehmen, aber mehr oder weniger blind in der Prostata rumstochern. Die andere Option ist, dass man sich moderner Bildgebung bedient und in einem erfahrenen Zentrum eine sogenannte multiparametrische Kernspintomografie der Prostata vornimmt. Die kann uns mit sehr hoher Empfindlichkeit sagen, ob es innerhalb der Prostatadrüse behandlungsbedürftige, auffällige Zonen gibt. Und die können wir dann über die besondere Technik der MRT-Fusionsbiopsie ganz gezielt biopsieren, und damit die Trefferrate erhöhen.

Das bedeutet, die klassische Prostata-Biopsie ist eigentlich ein sehr ungenaues Diagnostik-Tool. Wie groß ist denn das Risiko, dabei etwas zu übersehen?

Heidenreich: Bei der klassischen Biopsie über den Enddarm bei Patienten mit erhöhtem Risiko liegt die Trefferrate bei vielleicht 30 oder 35 Prozent. Also relativ niedrig. Wenn ich das mit der kernspintomografisch gestützten Biopsie durchführe, dann steigt die Trefferrate auf 70 bis 80 Prozent an; die Methode ist also viel genauer.

Eine Unsicherheit bleibt

Aber ehrlich gesagt finde ich, eine Unsicherheit von 20 bis 30 Prozent ist immer noch sehr hoch.

Heidenreich: Diese Unsicherheit bleibt, das stimmt. Da ist einfach ein Problem, dass es neben dem PSA-Wert keinen anderen guten, im klinischen Alltag etablierten Marker gibt, der auf Prostatakarzinome hindeutet. Und erhöhte PSA-Werte können eben auch von gutartigen Prostatazellen ausgehen. Da muss man verschiedene Dinge ins Kalkül ziehen: Je größer eine gutartig vergrößerte Prostata ist, desto höher ist der PSA-Wert. Und je älter Sie werden, desto höher der PSA-Wert. Da bleibt also eine Restunsicherheit. Ich kann aber sogenannte Risikokalkulatoren anwenden, die nicht nur recht zuverlässig vorhersagen, ob ein Prostatakarzinom vorhanden sein, sondern auch, ob ein aggressives Prostatakarzinom vorliegen könnte.

Wenn wir aber diese Kernspintomografie machen und dort bestimmte Herde sehen, und wir dann in der Biopsie ein Prostatakarzinom erkennen, dann ist das praktisch immer ein Karzinom, das von der Differenzierung her auch behandlungsbedürftig ist. Patienten, bei denen in gezielten Biopsien kein Karzinom entdeckt wird, können zwar in der Prostata kleinere Karzinomherde haben. Das sind aber fast immer die ungefährlichen Prostatakarzinome; die würden wir nach Diagnosestellung auch gar nicht behandeln wollen.

Unterm Strich ist diese Fehlerrate also eigentlich nicht schlecht, weil man dann nie in die Bredouille kommt, plötzlich aktive Therapien zu empfehlen, die vielleicht gar nicht notwendig sind.

Man(n) muss sich bei einem guten Urologen also keine Sorgen machen, durch die Früherkennung unnötig therapiert zu werden und überflüssige OPs oder Chemotherapien zu bekommen?

Heidenreich: Nein, diese Gefahr besteht nicht, würde ich sagen. Vorsorge empfehle ich auf jeden Fall, doch heute macht man das im Sinne einer risikoadaptierten Vorsorge, wo Alter und PSA-Wert berücksichtigt werden, und auch der familiäre Hintergrund. Ein Standard-Vorgehen, wie man das häufig sieht, dass jeder Mann einmal im Jahr sein Leben lang PSA testen lässt, das ist sicher nicht mehr gerechtfertigt.

Kommen wir zu Ihrer Forschungsarbeit: Leider gibt es auch die schweren Formen von Prostatakrebs, und Sie interessieren sich besonders für fortgeschrittene Stadien mit Metastasenbildung. Testosteron ist ein Wachstumssignal für diese Tumorzellen, und daher ist Androgen-Deprivation dann ein Mittel der Wahl. Auf deutsch heißt das: im Prinzip kastriert man den Patienten.

Heidenreich: Ja, aber meistens macht man das heute über die entsprechende Hormontherapie, nicht über die operative Behandlungsvariante. Der Therapieeffekt ist gleich, ob Sie das hormonproduzierende Hodengewebe entfernen oder eben auf medikamentöse Art und Weise dem Körper das Testosteron entziehen. Die meisten Patienten präferieren natürlich die medikamentöse Behandlungsform.

Die Nebenwirkungen sind aber doch dieselben. Besonders die Auswirkungen auf das Sexualleben stellen eine starke Einschränkung der Lebensqualität dar. Müssen die Patienten diesen Preis zahlen, wenn sie länger leben wollen?

Problemhormon Testosteron

Heidenreich: Das ist im Prinzip das Problem: dass das Prostatakarzinom zumindest im Anfangsstadium streng abhängig vom Vorhandensein des Testosterons wächst. Ich muss also medikamentöse Therapieformen finden, die verhindern, dass das Testosteron sich an diese Prostata-Karzinomzellen bindet und sie zum weiteren Wachstum stimuliert. Jetzt hat man eben die klassische Therapie, bei der Testosteron praktisch auf Null runtergefahren wird. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass man nur die Bindungsstelle des Testosterons an den Tumorzellen blockiert. Dadurch verhindert man, dass Testosteron in die Tumorzelle eindringt. Andererseits steht Testosteron für den sonstigen Körper weiterhin zur Verfügung. Dadurch treten dann Dinge wie Libidoverlust, Müdigkeit, Osteoporose und Muskelschwund nicht auf. Das ist aber nur für einen kleinen Teil der Patienten tatsächlich als Therapie geeignet. Nämlich für diejenigen, die eine geringe Metastasen-Ausdehnung haben.

Die anderen Patienten müssen also mit den Nebenwirkungen leben?

Heidenreich: Es gibt auch die Möglichkeit, Hormontherapie in einer sogenannten intermittierenden Variante einzusetzen. Dann behandelt man nur eine gewisse Zeit aktiv und unterbricht die Therapie dann wieder. Alles in Abhängigkeit von der Metastasenausdehnung.

Besteht denn die Hoffnung, dass durch den Testosteronentzug die Metastasen verschwinden?

Heidenreich: In bildgebenden Untersuchungen bei Hormontherapien sieht man, dass etwa 80 bis 90 Prozent dieser Tumorzellen tatsächlich absterben. Ein bestimmter Anteil von Tumorzellen bleibt aber fast immer übrig; entweder waren die von Anfang an unempfindlicher gegen das Hormon, oder sie haben ihre Resistenz unter der Hormontherapie entwickelt. Das erkennen wir immer daran, dass ein initial unter dieser Hormontherapie abfallender PSA-Wert plötzlich wieder ansteigt, während die Testosteronwerte aber weiterhin so tief bleiben, wie sie eben durch das Medikament induziert waren. Daran erkennt man dann diese Hormonunempfindlichkeit.

Hormontherapie als palliative Maßnahme?

Also werden viele Patienten mit Prostata-Metastasen nie wieder komplett gesund. In einem Ihrer Paper bezeichnen Sie die Hormontherapie ja auch als palliative Maßnahme.

Heidenreich: Das ist richtig, und darüber müssen wir die Patienten auch aufklären. Wenn Metastasen vorhanden sind und man die Hormontherapie einsetzt, wird man diese Krankheit in dem Sinne nicht los. Die bleibt einfach da mit vielen Aufs und Abs. Man kann die Metastasierung mit Medikamenten aber über einen langen Zeitraum gut kontrollieren. Wenn wir es beispielsweise schaffen, durch die Hormontherapie den PSA-Wert auf 0,1 bis 0,9 zu senken, dann wissen wir, dass diese Patienten für die nächsten acht bis zwölf Jahre eine gute Prognose haben. Wir wissen andererseits: wenn der PSA-Wert nicht unter einen bestimmten Schwellenwert abfällt, ist die Lebenserwartung relativ kurz. Aber genau das wollen wir mit innovativen Medikamenten in den Griff bekommen.

Einer dieser neuen Wirkstoffe hemmt ebenfalls die proliferationsfördernde Wirkung von Testosteron auf Tumorzellen: Enzalutamid. Hierzu haben Sie letztes Jahr Ergebnisse einer klinischen Studie veröffentlicht (Lancet Oncol. 2014 May;15(6):592-600). Was macht Enzalutamid so besonders?

Heidenreich: Enzalutamid hemmt nicht nur die Bindung von Testosteron an den Testosteronrezeptor, sondern hat noch zwei weitere Besonderheiten. Wenn trotzdem ein bisschen Testosteron an den Rezeptor bindet, dann würde dieser Komplex normalerweise in den Zellkern wandern. Enzalutamid verhindert diese Wanderung. Und selbst wenn etwas von diesem Komplex im Zellkern ankommt, dann verhindert Enzalutamid, das dort eine entsprechende Eiweißsynthese induziert wird. Durch diesen dreifachen Wirkmechanismus ist Enzalutamid so effektiv. Auch dann, wenn die klassischen Hormontherapien schon versagt haben. Das einzige, was wir als Nebenwirkung sehen, ist eine gewisse Müdigkeit, die bei Patienten auftreten kann. Aber ansonsten haben wir keine dramatischen Nebenwirkungen gesehen.

Enzalutamid war aber schon vor Ihrer Studie im Einsatz, oder?

Heidenreich: Ja, Enzalutamid ist mittlerweile zugelassen, das können Sie sich auf Rezept verschreiben lassen. Was wir eben in neuerer Untersuchung gemacht haben: Wir haben speziell Patienten mit Enzalutamid behandelt, die vorher noch keine Hormontherapie bekommen hatten. Man sieht, diese Patienten sprechen genauso gut an. Der PSA-Wert fällt bei über 90 Prozent der Patienten tief ab, fast bis in den Nullbereich. Und das hält sich jetzt schon über einen Zeitraum von drei bis vier Jahren. Also eine effektive Therapie mit relativ wenigen Nebenwirkungen und langer Wirkdauer.

Wann eine Therapie nun effektiv ist, hängt ja auch von der individuellen Situation des Patienten ab. Deshalb suchen Sie nach Biomarkern, mit denen man Behandlungserfolge schon im Vorfeld abschätzen und die bestmögliche Behandlung auswählen kann. Zum Beispiel haben Sie die Konzentration von cfDNA im Blut von Patienten mit Prostatakrebs analysiert (J Urol. 2015 Oct;194(4):966-71). Was hat es damit auf sich?

Heidenreich: cfDNA ist das, was wir als zellfreie zirkulierende DNA bezeichnen. Wir können nicht genau sagen, ob diese DNA einfach nur als Zellabfall durch Apoptose und Chemotherapie entsteht oder ob sie wirklich tumorspezifisch ist. Man postuliert aber, dass die cfDNA aus zugrunde gegangenen Tumorzellen entstanden ist. In einem ersten Schritt haben wir jetzt einfach nur geschaut, ob die Menge dieser zellfreien DNA, die wir messen können, in irgendeiner Weise mit dem Ansprechen auf eine nachfolgende Chemotherapie assoziiert ist. Und da haben wir eben zeigen können, dass die Konzentration dieser zellfreien DNA im Serum mit dem Ansprechen auf die Chemotherapie und mit dem Überleben nach Chemotherapie korreliert.

Die Zukunft: Personalisierte Therapie

Können Sie aus dieser Korrelation wirklich schon ableiten, bei welchen cfDNA-Konzentrationen man welche Therapie durchführen sollte?

Heidenreich: Nein, aus der Konzentration können Sie das noch nicht. Das war jetzt erstmal ein Proof of Principle, um zu sehen, ob man mit dieser cfDNA überhaupt etwas anfangen kann. Wir müssen jetzt validieren, ob die Ergebnisse aus diesem Patientenkollektiv auch in anderen Patientenkollektiven erreichbar sind. Das läuft momentan mit Patientengruppen aus anderen Kliniken. Das zweite wäre dann eine Verfeinerung des Modells, und daran arbeiten wir jetzt gerade.

Wie möchten Sie die Untersuchung der cfDNA denn verfeinern?

Heidenreich: Diese zellfreie DNA ist erst einmal ein sehr grober Marker. Deswegen möchten wir darin ganz bestimmte Mutationen nachweisen, von denen wir wissen, dass sie nur bei Patienten mit Prostatakarzinom vorkommen. Um dann aus dem Mutationsprofil ableiten zu können, auf welche Therapie der Patient am besten anspringt. Also praktisch alles, was in die Richtung personalisierte individualisierte Medizin geht. Dazu haben wir jetzt ein Programm mit den Kollegen hier aus der Pathologie aufgelegt, bei dem wir eben diese zirkulierende DNA auf Mutationen untersuchen und mit Mutationen im Metastasengewebe nach Biopsien vergleichen.

Dann wird es irgendwann also nicht mehr das eine Standardverfahren geben, sondern man würde jedem Patienten seine individuelle Therapie zurechtstricken.

Heidenreich: Das wird die Zukunft sein. Zumindest in den Zentren, wo Sie viele Patienten sehen, würde ich sagen, dass das in vier bis fünf Jahren Standard ist. Dass man nicht einfach eine unspezifische Therapie beginnt, sondern Gewebeproben aus den Metastasen und Blut molekular analysiert. Und abhängig vom Expressionsprofil dann die richtige Therapie auswählt. Bei den hämatologischen Neoplasien ist das ja schon gang und gäbe; also bei allem, was in Richtung Lymphom und Leukämie geht. Und das wird sich genau so beim Prostata-Karzinom entwickeln.

Glauben Sie, dass man irgendwann so gute Biomarker im Blut kennt, dass man dem Patienten unangenehme Biopsien komplett ersparen kann?

Heidenreich: Ich denke ja. Man geht jetzt schon auf die multiparametrische Kernspintomografie über. Auch da gibt es Entwicklungen eines sogenannten molekularen Imagings. Das heißt, Sie können bestimmte Stoffwechselprozesse und damit bestimmte Mutationen tatsächlich bildgebend darstellen. Das wird sich über die Jahre hinweg entwickeln, so dass man dann vielleicht komplett auf Biopsien verzichten kann.

 

Interview: Mario Rembold

Foto: Universität Köln



Letzte Änderungen: 22.12.2015