Ein Begriff erobert die Welt

(08.01.2019) Vor genau 100 Jahren erschien ein Buch für Landwirte, das einen ganzen Wissen­schaftszweig aus der Taufe hob: die Biotechnologie.
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Editorial

Wer hat‘s erfunden? Nein, diesmal sind‘s nicht die Schweizer. Gemeinhin gilt Louis Pasteur als Vater der Biotechnologie. Denn er war es, der zuerst erkannte, dass und wie man Mikroorganismen dazu bringen kann, für den Menschen nützliche Produkte wie Milchsäure, Essigsäure oder Alkohol zu produzieren. Natürlich neben seinen zahlreichen anderen Erkenntnissen.

Der französische Meister-Mikrobiologe starb 1895 in der Nähe von Paris, dennoch feiert der Branchenverband der deutschen Biotechnologie-Industrie (BIO Deutschland) 2019 „100 Jahre Biotechnologie“. Wie das? Ganz einfach. Der Verband hat sich die Erster­wähnung des Begriffs „Biotechnologie“ als Geburtsstunde der Disziplin auserkoren. Somit beginnt das Zeitalter der (industriellen) Nutzung von Biomolekülen, Zellen und Organismen für technische Anwendungen erst 1919 (24 Jahre nach Pasteurs Tod) mit der Veröffent­lichung eines 84-seitigen Buches namens „Biotechnologie der Fleisch-, Fett- und Milcherzeugung im landwirtschaftlichen Großbetriebe“. Darin legt ein gewisser Karl Ereky fest, dass „alle die Arbeitsvorgänge, bei denen aus den Rohstoffen mit Unterstützung lebender Organismen Konsumartikel erzeugt werden, dem Gebiete der Biotechnologie“ zugewiesen werden sollen. Nach Ereky ist eine Kuh, die Futter zu Milch verarbeitet, eine biotechnologische Arbeitsmaschine.

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Fortschritt durch Biologie

Der Begriff vereinte die zwei bis dahin getrennten Themengebiete Biologie und Technolo­gie – technischer Fortschritt, so suggerierte die Wortschöpfung, konnte nun nicht mehr nur durch Physik und Chemie erreicht werden, sondern auch durch biologische Ansätze.

Wie aber kam Ereky auf solche Gedanken? Ereky wurde 1878 als Wittmann Károly in Esztergom, 46 km nordwestlich von Budapest, geboren. 1893 änderte er seinen Namen zu Ereky Károly (auf deutsch: Karl Ereky). Damals und bis zum Ende des ersten Weltkrieges 1918 gehörte Ungarn zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie und war Zentrum der Landwirtschaft. Allerdings sorgte die 4-jährige Kriegszeit für karge Kost auf den Tellern der Europäer. Als Direktor der Viehverwertungsgenossenschaft ungarischer Großgrund­besitzer machte sich Ereky jedoch daran, die Fleischproduktion zu optimieren und zu industrialisieren. Denn wie er schon damals erkannte, reichen die Methoden und Werkzeuge der einfachen Bauern auch in Friedenszeiten nicht aus, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Durch ein Zusammenspiel aus Biologie, Ökonomie und Technologie könnte die Nahrungsmittelproduktion jedoch enorm gesteigert werden, überlegte Ereky, und ließ das damals größte und effektivste Schlachthaus bauen, in dem 50.000 biotechnologische Maschinen (Schweine) tagein tagaus damit beschäftigt waren, aus Zuckerrüben (Input) wertvolles Fett, Fleisch und Tierhäute (Output) zu produzieren.


Karl Ereky und seine „Biotechnologie“ von 1919.

Erekys namensgebende Veröffentlichung richtete sich ausdrücklich an „naturwissenschaftlich gebildete Landwirte“, gelangte aber auch in die Hände von Wissenschaftlern. Zum Glück, denn ansonsten hätte sich der Begriff vielleicht gar nicht durchgesetzt, wie Wissen­schafts­historiker Robert Bud in seiner „History of Biotechnology“ schreibt: „Es war nicht Ereky selber, der dafür gesorgt hat, dass sein Wort aufgegriffen wurde. Es war eher so, dass sein Buch vom einflussreichen Botaniker Paul Lindner besprochen wurde, der damals am Institut für Gärungsgewerbe in Berlin arbeitete und vorschlug, dass auch Mikroorganismen wie Hefe als biotechnologische Maschinen angesehen werden können“. Und genau mit dieser Bedeutung hielt Erekys Wortschöpfung auch Einzug in die deutschen Wörterbücher – und das bereits in den 1920er Jahren.

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Voller Erfolg

Die „Biotechnologie“ war für Ereky also ein durchschlagender Erfolg, in mehrerlei Hinsicht. Er hatte eine profitable Fleisch- und Milchindustrie erfunden, sein Buch verkaufte sich innerhalb weniger Wochen tausende Mal und wurde sogar ins Holländische übersetzt. Für ganze drei Monate war Ereky sogar Ungarns Ernährungsminister. Das Leben des „zweiten Vaters der Biotechnologie“ nahm dann allerdings ein recht tragisches Ende.

Im September 1946 wurde Ereky zu 12 Jahren Haft verurteilt, wegen seiner konterrevo­lutionären Rolle während und nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Räte­republik in Ungarn. Sein Andenken wurde ausgelöscht. Erst im Jahr 2000, so schreiben zwei ungarische Agrarwissenschaftler, wurde den Verwandten Erekys mitgeteilt, dass er seine letzten acht Jahre im Gefängnis von Vác (35 km nördlich von Budapest) verbracht hat und dort 74-jährig am 17. Juni 1952 verstarb. Kein Vergleich also zum anderen Vater der Biotechnologie – Pasteur erhielt ein Staatsbegräbnis.

Vergangenheit und Zukunft

Seit 1919 bestimmt die „Biotechnologie“ nun also einen immer größer werdenden Teil unseres Lebens. BIO Deutschland nimmt das zum Anlass, das Jubiläum mit einem Themenjahr zu feiern. Auf einer eigens zu diesem Zweck kreierten Webseite sollen die größten Meilensteine aus „100 Jahren Biotechnologie“ gebührend gewürdigt werden. Und davon gibt es einige: 1926 beispielsweise entwickelte James Currie ein Verfahren, um Zitronensäure fermentativ aus Zucker herzustellen; 1942 begann die industrielle Produktion von Penicillin und, wir erinnern uns, im letzten Jahr gab‘s den Medizin-Nobel­preis für die Entwicklung von Krebsimmuntherapien. „Gleichzeitig wollen wir auch einen Ausblick darauf geben, wie die Biotechnologie es uns ermöglicht, in Zukunft die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, wie z. B. den Schutz des Klimas, zu erreichen,“ erklärt Viola Bronsma, Geschäftsführerin von BIO Deutschland, in einer Pressemitteilung.

Wenn man‘s allerdings sehr genau nimmt, kommt die BIO Deutschland-Initiative ein Jahr zu spät. Denn zumindest seinen naturwissenschaftlich gebildeten Landsleuten könnte der Begriff bereits 1918 bekannt gewesen sein, da nämlich veröffentlichte Ereky seine „Biotechnológia“ – auf ungarisch.

Kathleen Gransalke

Wie die Zeit vergeht. Neben "100 Jahren Biotechnologie“ gibt es dieses Jahr noch viele weitere Jubiläen in den Lebenswissenschaften. Laborjournal reiht sich ein in die Riege der Gratulanten und würdigt die Jubilare in unregelmäßiger Folge mit einem Beitrag – hier auf unserer Webseite oder im Heft.



Letzte Änderungen: 08.01.2019