Fallbeispiel eines Fallbeispiels

(04.10.2019) HIGHLIGHTS AUS 25 JAHREN LABOR­JOURNAL: Ein Grundlagenforscher schlägt eine klinisch-medizinische Hypothese vor. Eine reale Posse aus dem Jahr 2007.
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Editorial

Ein Neurobiologe stellt eine Hypothese zu einem urologischen Problem auf. Er testet sie erfolgreich an sich selbst, Patienten für eine klinische Studie hat er ja nicht. Der nachfolgende Versuch, Hypothese und Ergebnisse zu veröffentlichen, verkommt jedoch alsbald zur Posse. Siegfried Bär berichtet.

Kuno Kirschfeld ist emeritierter Direktor am Tübinger MPI für biologische Kybernetik. Sein Arbeitsgebiet ist die vergleichende Neurobiologie. Vor einigen Jahren musste er jedoch ein fachfremdes Problem erforschen: Aus bisher ungeklärten Ursachen beginnt bei einem erheblichen Prozentsatz von Männern mit zunehmendem Alter die Prostata zu wachsen. Es können Schmerzen auftreten, die als „Chronisches Schmerzsyndrom des Beckens“ bezeichnet werden. Diese Beschwerden traten bei ihm auf.

Für eine Behandlung muss zunächst geklärt werden, ob eine bakterielle Infektion vorliegt. Falls ja können Antibiotika eingesetzt werden. Außerdem muss eine Biopsie klären, ob der Krankheit womöglich ein bösartiger Tumor zugrunde liegt. In Kirschfelds Fall waren weder Antibiotika wirksam noch gab es Hinweise auf Tumoren. Die Diagnose also: Chronisch abakterielle Prostatitis, die weitaus häufigste Form der Prostatitis.

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Die Schmerzen, die diese Erkrankung begleiten, können erheblich sein. Sie entsprechen etwa denen beim Herzinfarkt oder der Crohn-Krankheit. Kirschfeld kann bestätigen: Mit schwerer chronisch abakterieller Prostatitis ist kein normales Leben möglich. Ein Urologe schlug ihm eine Operation vor, ein Ordinarius mit viel operativer Erfahrung riet davon ab: Die Gefahr von unerwünschten Nebenwirkungen sei erheblich, der Erfolg in diesem Fall zweifelhaft.

Kaum einleuchtende Erklärungen

Was tut man als Wissenschaftler in solch einem Fall? Kirschfeld zog sich für zwei Monate in die Tübinger Universitätsbibliothek zurück und studierte die Literatur zu Chronisch abakterieller Prostatitis. Er stellte fest, dass es keine Therapie gab (was ihm auch schon die Urologen erzählt hatten), aber zahllose Erklärungsmodelle wie Autoimmunkrankheit, neurogene Entzündung et cetera. Keine leuchtete ihm ein. Beim Studium histologischer Schnitte stellte er jedoch fest:

1. Bei älteren Männern finden sich in der Prostata regelmäßig Prostatakörperchen (Corpora amylacea), konzentrisch geschichtete Koazervate aus Eiweiß, Fett und Mukosubstanzen. Durch Einlagerung von Kalksalzen können sich die Prostatakörperchen in Konkremente umwandeln und als „Ausgusssteine“ über erbsengroß werden. Drüsengänge mit eingelagerten Prostatakörperchen sind oft zystisch ausgeweitet und von athrophischem Epithel ausgekleidet.

 2. Bei ausgeprägter, sogenannter nodulärer Hyperplasie sieht man oft eingedickte, von Leukozyten durchsetzte Sekretmassen in zystisch ausgeweiteten Drüsengängen.

 3. Mukoproteine bilden einen Bestandteil des Prostatasekretes

 4. Der Gewebedruck der Prostata von Patienten mit chronischer nicht-bakterieller Prostatitis ist im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant erhöht.

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Nichts als Disulfidbindungen?

Könnte es sein, dass die Verstopfung der Prostata mit Sekret und ein daraus resultierender erhöhter Gewebedruck die Ursache für die Schmerzen sind, fragte sich Kirschfeld? Das war bereits vermutet worden. Die entscheidende Frage war aber: Kann man die Blockierung des Sekretabflusses beseitigen?

„Da Mukoproteine Bestandteil des Prostatasekrets sind, könnten Sekretolytica und Mukolytika dies bewirken. Mukoproteine enthalten nämlich Disulfidbindungen, die durch die freie Sulfhydrylgruppe, zum Beispiel des Mukolytikums Acetylcystein, gespalten werden können“, überlegte Kirschfeld. Acetylcystein verringert zum Beispiel die Viskosität von Speichel. Auch wird es eingesetzt, um zähen Schleim in den Bronchien zu verflüssigen. Acetylcystein ist fast nebenwirkungsfrei und ohne Rezept erhältlich.

Also ging Kirschfeld hin, kaufte etliche Gramm Acetylcystein und nahm zweimal 600 mg auf nüchternen Magen. Nach einigen Stunden, so Kirschfeld, trat ein Wärmegefühl im Beckenboden auf und innerhalb von zwei Tagen waren die Schmerzen verschwunden. „Der PSA-Wert – ein Indikator von cancerogenem Geschehen aber auch von Entzündungen der Prostata – normalisierte sich. In der Folgezeit entstanden wiederholt erneute Beschwerden, zunächst im Abstand von 1-2 Wochen, etwa ein Jahr nach Therapiebeginn nur noch im Abstand von 4-8 Wochen, inzwischen nur noch in mehrmonatlichem Abstand. Sie ließen sich immer durch erneute Applikation von ACC innerhalb weniger Stunden koupieren.“

Seit nunmehr vier Jahren ist Kirschfeld praktisch beschwerdefrei und hat sich längst wieder der Neurobiologie zugewendet.

Seine Heilung muss dem Kuno Kirschfeld wie ein Wunder erschienen sein. Er beschloss, eine Einzelfallstudie (Case Report) zu schreiben und sie bei der Zeitschrift World Journal of Urology einzureichen. Er machte dabei den Schriftleiter darauf aufmerksam, dass er kein Urologe und selbst der beschriebene Patient sei.

Der Schriftleiter schickte Kirschfelds Paper dem „Field Editor“ für Prostatitis zu, der es wiederum an einen Gutachter weiterleitete. Dessen Meinung: „Although the idea is innovative, it should be proven by a placebo controlled study.” Der „Field Editor“, Kurt Naber vom Klinikum Straubing, schloss sich der Meinung des Gutachters an und lehnte das Paper ab.

Kirschfeld wandte ein, dass er als Nicht-Urologe keine Placebo-kontrollierte Studie durchführen könne. Es stünden ihm ja keine Patienten zur Verfügung. Sein Paper sei ja gerade als Anregung zu einer solchen Studie gedacht.

Der Editor sträubt sich

Der „Field Editor“ antwortete: „Wenn Sie die Literatur über die Behandlung der Prostatitis kennen, dann wissen Sie, wie viele therapeutische Konzepte bereits veröffentlicht worden sind. Leider gibt es nur wenige gut kontrollierte Studien (lediglich 11), wobei sich bei den meisten gezeigt hat, dass der Effekt nicht substanziiert werden konnte.“ Naber erklärte sich jedoch bereit – Kirschfelds Einverständnis vorausgesetzt –, die Methode seinen Patienten anzubieten und Kirschfeld Bericht zu erstatten.

In der Tat ist die Zahl der Therapien bei chronischer Prostatitis uferlos. Eine kurze Durchsicht einschlägiger Patientenforen ergab folgende Therapien, die im Einzelfall gewirkt haben sollen: Nicht daran denken, Broccoli, Sitzball, lange Unterhosen, Sägepalmenextrakt, Urlaub, das Absetzen von Mentholzigaretten.

Zu den Argumenten Nabers meinte Kirschfeld: „Sicher haben Sie mit Ihrem Hinweis recht, dass viele therapeutische Konzepte veröffentlicht worden sind, deren Effekt nicht substanziiert werden konnte. Aber sie konnten doch trotzdem veröffentlicht werden. Nichts anderes hoffe ich auch zu erreichen. Vermutlich ist es auch besser, einmal ein sich nicht bewährendes Therapiekonzept zu publizieren, als die Publikation eines möglicherweise wirksamen Therapiekonzeptes zu verzögern.“

Neues Journal, gleiche Abfuhr

Der „Field Editor“ antwortete, dass der Placeboeffekt bei chronischer Prostatitis beträchtlich sei. In der Tat scheint er bei 40 Prozent zu liegen.

Kirschfeld wiederum wies auf die Entdeckung von Helicobacter als Ursache von Magengeschwüren hin. Dort habe zunächst auch kein Mensch geglaubt, dass die Idee von Marshall und Warren zutreffen könne. Die Evidenz, die sie für ihre Vermutung hatten, sei ja auch reichlich indirekt gewesen. Trotzdem hätten sie ihre Vorstellungen publizieren können.

Kirschfeld war jedoch inzwischen aufgefallen, dass das World Journal of Urology generell keine Fallbeispiele veröffentlicht. Er beschloss daher, sich an eine Zeitschrift zu wenden, bei der dies üblich war.

Er schrieb das Paper also noch einmal, diesmal auf Deutsch, und schickte es am 17. Januar 2006 an Der Urologe. Am 4. April 2006 kam die Ablehnung. Am 19. April schickte Kirschfeld dem Schriftleiter Richard Hautmann vom Uniklinikum Ulm einen Brief, der fast so lang war wie sein Manuskript, und legte dar, dass dieses den Vorgaben für eine Einzelfallstudie von Der Urologe in allen Punkten entspräche. Kirschfeld bat, seinen Brief den Gutachtern vorzulegen, damit sie vielleicht ihre Entscheidung überdächten. Schriftleiter Hautmann kam dieser Bitte nach. Es geschah erst einmal nichts.

Als Kirschfeld nach zweieinhalb Monaten, am 6. Juli 2006, nachhakte, kam eine Woche später eine ausführliche Antwort. Die Arbeit war wiederum abgelehnt worden. Schriftleiter Hautmann hatte aber diesmal die Kommentare der Gutachter beigelegt. Diese bemängelten, dass in Kirschfelds Arbeit der Beschwerdedruck nicht quantifiziert sei und ein Symptom-Score fehle. Auch sei die Angabe „erhöhte Leukozytenzahl“ zu ungenau. Um welche Leukozytenfraktion es sich handele? Zudem würden objektive Angaben über die Änderung des Beschwerdedrucks nach Acetylcystein-Gabe fehlen. Ein Gutachter meinte weiterhin, Kirschfelds Konzept sei seit Jahrzehnten bekannt – so führe die wiederholte Ejakulation immer zu einem Absinken des Beschwerdedrucks. Kirschfeld solle eine Pilotstudie machen. Ein weiterer Gutachter hielt Kirschfelds Konzept für interessant, hatte aber dennoch ein großes Problem, die Arbeit als Publikation ernst zu nehmen. Er schlug vor, das Konzept als Leserbrief zu veröffentlichen.

Nicht mal als Leserbrief

Kirschfeld fragte daraufhin am 24. Juli bei Der Urologe an, ob er sein Konzept als Leserbrief veröffentlichen dürfe. Es kam keine Antwort. Am 12. August hakte Kirschfeld noch einmal nach. Am 19. September antwortete Schriftleiter Hautmann, er könne sich eine Veröffentlichung als Leserbrief vorstellen, Kirschfeld müsse den Beitrag aber in der Form eines Leserbriefs auf maximal zwei DIN-A4-Seiten schreiben.

Kirschfeld schickte den Leserbrief in der verlangten Form am 13. November 2006 an Der Urologe. Bis heute hat er nichts davon gehört. Eine Anfrage von Laborjournal bei Richard Hautmann ergab: Der Leserbrief wird nicht veröffentlicht.

Kirschfeld wundert sich: „Es scheint weder den „Field Editor“ von World Journal of Urology noch den Schriftleiter Hautmann von Der Urologe zu stören, dass ein womöglich für eine große Zahl von Patienten wirksames Medikament – diese Möglichkeit hat niemand bestritten – diesen durch ihr Verhalten vorenthalten bleibt. Einen Leserbrief sollte die Sache doch auf jeden Fall wert sein. Natürlich ist denkbar, dass einer der Schriftleiter oder einer der Gutachter das Medikament therapeutisch einsetzt und die Ergebnisse publiziert, so dass es, wenn auch verspätet, für Patienten verfügbar wird. Aber dies wäre ja wohl Plagiarismus.“

Die abgelehnten Arbeiten können in Kirschfelds Publikationsliste auf der Homepage seines Instituts abgerufen werden.

 

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KOMMENTAR

Die Reaktionen der Schriftleiter des World Journal of Urology und Der Urologe haben mich überrascht – und zwar angenehm. Beide wiesen die Hypothese des medizinischen Laien Kirschfeld nicht von der Hand. Sie diskutierten mit ihm und waren zugänglich für seine Argumente. Meine Erfahrungen mit Medizinern hätten mich erwarten lassen, dass sie die Meinung eines Laien, und sei sie wissenschaftlich noch so gut begründet, gar nicht zur Kenntnis nehmen und mit einem schnöseligen Schreiben abbügeln.

Das Bemühen der Schriftleiter ist umso höher einzuschätzen, als sich in Kirschfelds Briefen Stellen finden, die einem Schriftleiter in den falschen Hals geraten könnten – etwa: „...ich fühle mich ratlos und erwäge deshalb Rat einzuholen. Es gibt bei vielen Universitäten, der Max Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft Gremien, die sich mit der Erarbeitung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis beschäftigen. Ich will bei einem Mitglied eines solchen Gremiums – vertraulich – anfragen, wie es unsere konträren Standpunkte beurteilt...“ Oder: „Denkbar wäre natürlich, dass die Gutachter, die jetzt den Inhalt der Arbeit kennen, mein Verfahren bei eigenen Patienten anwenden, und – bei Erfolg – publizieren. Dies will ich aber keinem Kollegen unterstellen, es wäre ja Plagiat.“

Auch die Haltung der Gutachter war korrekt: Bei einer Krankheit, die derart anfällig für Placebos ist, sagen Einzelfälle nichts aus. Es sollten Pilotstudien gemacht werden. Auch mag Kirschfelds Fall ungenügend dokumentiert worden sein. Die Hypothese selbst wiesen die Gutachter nicht von der Hand; im Gegenteil, auf zwei von ihnen scheint sie Eindruck gemacht zu haben, und einer verwies ausdrücklich auf die Möglichkeit eines Leserbriefs.

Umso seltsamer die Entscheidung des Schriftleiters Hautmann, den Leserbrief dann doch nicht zu veröffentlichen.

Der Wert von Kirschfelds Beitrag liegt in der plausiblen Hypothese, die zudem leicht und gefahrlos prüfbar ist. Es muss Möglichkeiten geben, derartige Hypothesen dem Fachpublikum vorzustellen – sei es als Fallbeispiel, als Leserbrief oder in einer eigenen Hypothesenkolumne. Die Schriftleiter hätten ihren Gutachtern die spezielle Sachlage darlegen sollen, dass der Autor kein Urologe ist und keine Möglichkeit hat, Pilotstudien durchzuführen – und dann fragen, ob die Hypothese eine Veröffentlichung wert wäre.

Damit könnten sich die Mediziner die Kenntnisse und Gedankengänge von fachfremden Wissenschaftlern zunutze machen, die keinen Zugang zu Patienten haben. Man könnte meinen, dass die medizinische Forschung dies dringend nötig habe: An Kirschfelds naheliegender Idee sind jedenfalls tausende forschender Urologen blind vorbeigegangen. Anders gesagt: Ein Laie lieferte nach nur zwei Monaten Literaturstudium eine vollständige Hypothese, Ursache plus Heilmittel, für eine der häufigsten Krankheiten ab. Und diese Hypothese leuchtete den Fachleuten sogar soweit ein, dass sie bereit waren, sie an eigenen Patienten zu überprüfen.

Muss man daraus nicht schließen, dass es mit dem Ideenreichtum der klinischen Forscher nicht weit her sein kann?                           

Siegfried Bär

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(Der Artikel erschien in der Laborjournal-Printausgabe 3/2007)




Letzte Änderungen: 02.10.2019