Stolperstein statt Blockbuster

(10.10.2019) Hat Novartis für die Zulassung seines Spinale Muskelatrophie-Präparats Zolgensma geschummelt? Vieles deutet darauf hin. Die FDA ermittelt.
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Editorial

Es ist das teuerste Medikament der Welt – 2,1 Millionen US-Dollar kostet die Behandlung mit Zolgensma oder Onasemnogene abeparvovec, einer Gen-Therapie für Klein­kinder und Säuglinge mit Spinaler Muskel­atrophie (SMA). Dieses stolze Sümmchen müssen die Eltern der betroffenen Kinder zum Glück nur einmal aufbringen, denn schon eine einzige Injektion soll reichen, um den krank­machenden und in vielen Fällen letalen Mangel an SMN-Protein via Adeno-assoziier­tem Virus-Vektor langfristig zu korrigieren. Die Gen-Therapie landete erst im letzten Jahr im Portfolio der Schweizer, nachdem Novartis die Biotech-Firma Avexis für fast neun Milliarden US-Dollar übernommen hat.

Seit Mai ist Zolgensma in den USA zugelassen. Ein entsprechender Antrag liegt auch schon auf dem Tisch der Euro­päischen Arzneimittel-Agentur, EMA. Auch in Europa sollte die Behandlung eigentlich auf dem schnellsten Wege – durch die Accelerated Assessment Procedure – auf den Markt kommen. Die EMA kippte vor Kurzem jedoch diese Schnell-Bewertung wieder – statt 150 Tage muss Novartis nun, wie alle anderen, 210 Tage auf eine Entscheidung warten. Gründe für diesen Schritt gab die Agentur keine an.

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Schwer zu erklären

Obwohl es durchaus einige geben könnte – denn schon vor der US-Zulassung hat Zolgensma mit ungeklärten Todesfällen Schlagzeilen gemacht und auch aktuell bringt das Präparat Novartis-Chef Vas Narasimhan, der den Konzern bisher souverän leitete, in arge Erklärungsnot.

Die Ausgangslage für Zolgensma war auf jeden Fall gut. Weit und breit gibt es nur ein einziges Konkurrenz­präparat: Nursinersen (Spinraza) von Biogen. Biogen wurde übrigens 1978 in Genf von Heinz Schaller (2010 gestorben) und den zwei Nobelpreis­trägern Walter Gilbert (1980, Chemie, DNA-Sequen­zierung, zusammen mit Frederick Sanger) und Phillip Sharp (1993, Medizin, Mosaikgen-Entdeckung) gegründet. Entwickelt hatte Nursinersen, ein Antisense-Oligonukleotid, Adrian Krainer, der kürzlich für seine Entdeckung den K-J.-Zülch-Preis und letztes Jahr den 3 Millionen US-Dollar schweren Breakthrough Prize entgegen­nehmen durfte. Das Oligonukleotid korrigiert das fehlerhafte RNA-Spleißen des SMN2-Gens, wodurch am Ende die SMN-Proteinlevel ansteigen. Seit Mai 2017 ist die Therapie in Europa zugelassen.

Nursinersen hat im Vergleich zu Zolgensma jedoch einen entscheidenden Nachteil. Die Injektionen müssen in regelmäßigen Abständen immer wieder neu verabreicht werden: sechs Injektionen im ersten Jahr, vier in den folgenden. Bei den Kosten kann Nursinersen locker mit Zolgensma mithalten. 620.000 Euro werden im ersten Jahr fällig, danach kommen jährlich 310.000 Euro hinzu. Letztes Jahr nahm Biogen mit seiner SMA-Therapie 1,7 Milliarden US-Dollar ein.

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Manipulierte Daten

Zolgensma würde das Therapie-Angebot gut ergänzen. Wenn es diese besagten Ungereimt­heiten nicht gäbe. Die zwei Todesfälle, beispielsweise, während klinischer Phase-3-Studien. Novartis-Chef Narasimhan erklärte damals dazu, dass bei einer so ernsten Krankheit immer mit Todesfällen gerechnet werden muss – unabhängig von der Behandlung. Auch heute ist noch nicht eindeutig geklärt, ob es einen Zusammen­hang mit der Gen-Therapie gibt oder nicht. Das hielt die FDA jedoch nicht davon ab, ihre Zulassungs­entscheidung hauptsächlich auf diese noch laufenden Phase-3-Studien und eine abgeschlossene Phase-1-Studie zu basieren – sowie, wie wir jetzt wissen, auf möglicherweise manipulierte Daten.

Am 28. Juni, einen Monat nach der Zulassung, erhielt die FDA unerwartet Nachricht von Avexis: die Firma teilte mit, dass sie Unregel­mäßigkeiten („data integrity problems“) entdeckt hatte. Umgehend leitete die Zulassungs­behörde eine Untersuchung ein und stellte in der Tat fest, dass Daten, die aus einem „in vivo relative potency assay“ zur Produkt­prüfung stammen, möglicherweise falsch gehandhabt oder sogar manipuliert wurden. Es soll sich dabei allerdings nur um ein paar wenige Datensätze handeln, die jedoch auch Teil der Zulassungs­unterlagen waren. Die FDA-Delegation machte weitere „Observations“: das Gewicht der behandelten Mäuse wurde nicht ordnungsgemäß ausgedruckt und im Laborbuch vermerkt; Tierpfleger, die auch in der Produktion tätig waren, unterstanden Forschungs­wissenschaftlern ohne GMP (Good Manufacturing Practice)-Erfahrung usw.

Schwerer als diese Verstöße wiegt für manche jedoch die Tatsache, dass sowohl Novartis als auch Avexis schon viel eher von den Unregel­mäßig­keiten gewusst oder zumindest gewusst haben könnten – die FDA aber erst einen Monat nach der Zulassung informierten. Passiert sind die Manipu­lationen wohl schon Anfang 2018. Mindestens den Forschungs­leitern hätte das auffallen können, ja, sogar müssen. Nach offiziellen Angaben wies aber erst im März 2019 ein Avexis-Wissen­schaftler das Management auf die gefälschten Daten hin.

Nach außen versuchte sich Novartis zunächst aus der Sache heraus­zuwinden: Man hätte sofort nach Bekannt­werden (also im März) eine interne Untersuchung eingeleitet, hieß es. Bei der FDA-Begehung kam jedoch heraus, dass erst Mitte Mai mit der Aufarbeitung begonnen wurde. Selbst zu diesem Zeitpunkt hätte man der FDA noch rechtzeitig Bescheid geben können. Tat man aber nicht.

Freiwillige Beichte

Narasimhan hat inzwischen Besserung gelobt. Zukünftig, so versprach er kürzlich während einer Investoren-Versamm­lung, will er die FDA innerhalb von fünf Werktagen über jegliche glaubhafte Anschuldigung („any credible allegation“) von Daten­manipulation informieren – freiwillig und proaktiv.

Ob der FDA dieses Versprechen reicht? Die amerikanische Zulassungs­behörde hat ihrer­seits jedenfalls bereits angekündigt, dass sie über zivil- oder strafrecht­liche Maßnahmen nachdenkt. Sie ist aber auch davon überzeugt, dass das Medikament weiterhin auf dem Markt bleiben sollte.

Auch die Politik hat sich inzwischen eingemischt. In einem Schreiben an FDA-Chef Ned Sharpless fordern Bernie Sanders und weitere Senatoren harte Strafen. „Wir rufen Sie auf, alles, was in ihrer Macht steht, inklusive straf-, zivilrechtlicher und behördlicher Maßnahmen, zu tun, um Avexis für sein gesetzwidriges Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. (…) Alles andere als eine konsequente Antwort würde zukünftigem Fehlverhalten von Pharma-Firmen grünes Licht geben“.

Zumindest eine konsequente Antwort hat es seitens Novartis schon gegeben. Schon vor Kontakt­aufnahme zur FDA, also schon Anfang Mai, mussten Brian Kaspar (Chief Scientific Officer) und sein Bruder Allan Kaspar (Senior Vice President of Research and Development) ihre Hüte nehmen. Brian Kaspar hatte Avexis 2015 gegründet, um die SMA-Gen-Therapie klinisch weiterzuentwickeln und anschließend zu vermarkten. Er beteuert, laut Medien­berichten, seine Unschuld und will nun gegen seinen Rausschmiss klagen.

Wir bleiben dran.

Kathleen Gransalke