Doktor Diarrhö

(15.01.2021) Aus unserer Reihe 'Anekdoten aus dem Forscherleben': Mit sogenannter Salamitaktik so viele Paper wie möglich anzuhäufen, ist eigentlich gar nicht lustig.
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Editorial

Am Rande eines Meetings – es war schon spät und auch das eine oder andere Glas Wein war bereits geleert – kam es zu folgendem Gespräch zwischen den Professoren Materazzi und Eulenfeld:

»Weißt du«, begann Materazzi, »meine alten Kumpels und ich hatten auf Fachkonferenzen immer großen Spaß damit, gewisse ahnungslose Kollegen auf die Schippe zunehmen. Klar, das war nicht immer nett, aber letztlich traf man dort jedes Mal auch die schrägsten Vögel seines Felds. Und die zogen Spott und Sarkasmus fast schon automatisch auf sich… Ja, ich muss zu meiner Schande zugeben: Meine Freunde und ich haben das immer wieder ausgiebig genossen – und auf diese Weise viele fröhliche Stunden damit verbracht, uns auf Kosten anderer königlich zu amüsieren.«

»Und wie sah das dann konkret aus?«

»Beispielsweise gibt es da einen gewissen Kollegen, der übrigens hier auch wieder dabei ist. Erst letztes Jahr tippte mir auf einer Konferenz in Frankreich plötzlich mein englischer Freund Laughton auf die Schulter, zeigte auf ihn und brummte bissig: „Siehst du den Kerl da drüben, mit den abgerissenen Klamotten und fettigen Haaren? Er hat gerade den Lehrstuhl vom guten alten Schlumberger übernommen. Was für eine Enttäuschung!“… Auf der Tagung tauften wir ihn schließlich auf „Doktor Diarrhö“.«

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UND PLÖTZLICH RUFT ER AN...

»Wieso das?«

»Produziert zwei Paper pro Monat, aber die sind fast nie von fester Substanz. Man könnte nahezu jedes davon genauso gut ungelesen den Abfluss runterspülen… Aber Moment, es wundert mich jetzt doch, dass du ihn nicht kennst – thematisch arbeitet er gar nicht so weit weg von dir… Anyway, jedenfalls hatten wir mit „Doktor Diarrhö“ im weiteren Verlauf der Konferenz noch sehr viel Spaß, kann ich dir sagen – sofern er nicht in Hörweite war«…

Ironischerweise musste Eulenfeld nicht lange warten, bis diese Geschichte eine unerwartete Wendung nahm, die für ihn leider nicht mehr so spaßig war. Drei Wochen nach der Konferenz hatte er „Doktor Diarrhö“ am Telefon. Eulenfeld konnte nicht anders, ein Grinsen kroch sofort über sein Gesicht – das aber ziemlich schnell wieder verschwand, als „Doktor Diarrhö“ die Zusammenarbeit an einem bestimmten Projekt vorschlug.

Sein Telefon-Monolog lief im Wesentlichen so:

»Ich habe gerade Ihre Arbeiten über … gelesen... Interessante Ergebnisse, wirklich interessant ... Wissen Sie, ich arbeite in meinem Labor an einem ähnlichen Thema … allerdings mit einem ganz anderen interessanten Organismus … Vielleicht haben Sie meine Arbeiten ja gelesen? ... Meine Idee ist nun, dass wir, wenn man Ihre Tests mit unserem System durchführen könnte, zusammen vielleicht ein paar interessante Dinge herausbekommen könnte ... Mein Vorschlag also wäre, Ihnen für ein paar Tage eine meiner Doktorandinnen vorbeizuschicken, um zusammen mit jemandem aus Ihrem Labor Ihre Tests mit unserem Material durchzuführen ... Und wer weiß, vielleicht bekommen wir am Ende ein interessantes kleines Papier zusammen.«

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EINE UNANSTÄNDIGE ANFRAGE

Zu Eulenfelds eigener Überraschung hörte er sich antworten:

»Ja, warum nicht! Sagen Sie mir einfach, wann Ihre Mitarbeiterin kommen kann, und ich werde hier alles arrangieren.«

Zwei Wochen später war „Diarrhös“ Doktorandin für drei Tage da – und führte genau einen Versuch durch. »So weit, so gut«, dachte Eulenfeld, »Fall abgeschlossen! Habe ich also auch meine eigene Erfahrung mit „Doktor Diarrhö“ gemacht.«

Doch Eulenfeld hatte sich getäuscht, abgeschlossen war „der Fall“ damit noch nicht. Nur vier Tage später erhielt er ein Manuskript von „Diarrhö“. Er hatte aus den Daten des Assays – der wohlgemerkt nur einmal durchgeführt worden war! – eine Abbildung erstellt und fragte, ob Eulenfeld noch zwei weitere hinzufügen könnte, die seine Gruppe im Wesentlichen bereits in einem früheren Paper veröffentlicht hatten.

»Natürlich können wir dafür nicht genau dieselben Daten verwenden wie in dem Paper“, schrieb er jovial. „Aber ich bin mir sicher, dass Sie weitere Daten aus ähnlichen Experimenten in der Schublade haben, die wir dann für unser Paper anpassen können.«

"PRINZIP DER KLEINSTEN PUBLIZIERBAREN EINHEIT" 2.0

Eulenfeld war völlig verblüfft. Es dauerte zwei Tage, bis er antworten konnte, dass selbst wenn die beiden von ihm verlangten Abbildungen tatsächlich neue Daten darstellen würden, die Ergebnisse immer noch nicht ausreichen würden, um auch nur ein halbes Paper zu füllen.

Und im gleichen Moment wurde ihm klar, wie „Doktor Diarrhö“ es geschafft hatte, den brillanten und ehrenwerten Schlumberger auf seinem Lehrstuhl abzulösen. Es war die schiere Menge an Publikationen! Nach „Diarrhös“ Methode war es schließlich kein Wunder, dass er quasi alle zwei Wochen ein Paper absondern konnte – auch wenn diese ausnahmslos in Low-Impact-Journalen erschienen. Wie „Diarrhoe“ mit all diesen „Low-Substance-Veröffentlichungen“ die Gutachter und am Ende sogar die Berufungskommission überzeugen konnte, blieb eine offene Frage.

„Diarrhö“ war also ein Paradebeispiel dafür, wie man durch das sogenannte „Prinzip der kleinsten publizierbaren Einheit“ einen hohen Paper-Ausstoß hinkriegt. Am Ende verfeinerte er dieses Prinzip sogar noch, indem er eine eigentlich schon unverschämte Überschneidungsstrategie anwandte: Ergebnisse A, B und C veröffentlichen; dann B und C zusammen mit D neu publizieren; danach ein Paper über C, D und E schreiben...

AUCH WENN DIE CLOWNS DANN WENIGER WERDEN...

»Doch wie kann man Leute wie ihn stoppen?«, fragte sich Eulenfeld unweigerlich. »Vielleicht sollte man den oft geäußerten Vorschlag tatsächlich mal ausprobieren, dass die Bewerber auf höhere akademische Stellen statt ihrer gesamten Publikationsliste nur ihre drei oder vier „besten“ Arbeiten präsentieren – und dabei genau erklären, warum genau sie diese für ihre wichtigsten Beiträge zum jeweiligen Fachgebiet halten. Wenn das gängige Praxis wäre, würden die Leute vielleicht endlich darauf abzielen, exzellente und umfassende Arbeiten zu produzieren – statt vor allem so viele wie möglich. Ich möchte fast wetten, dass es Leute wie „Doktor Diarrhö“ dann niemals ganz nach oben spülen würde.«

Und mit einem Grinsen dachte Eulenfeld noch: »Allerdings müssten gewisse Kollegen dann ganz andere Leute zu ihren Konferenz-Clowns küren.«

Ralf Neumann

Foto: Pixabay / Jan Barkmann

 

(Die einzelnen Geschichten dieser Kolumne sind uns in aller Regel nicht genau so, aber doch sehr ähnlich referiert worden.)

 

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