Fische ohne Appetit
(28.01.2021) Mithilfe von Zebrafischlarven hat das schweizerische Start-up EraCal möglicherweise einen spezifisch wirkenden Appetitzügler gefunden.
Übergewicht und Fettleibigkeit sind längst eine der wichtigsten sogenannten „Volkskrankheiten“. In Deutschland stuft das RKI zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen als übergewichtig und fast jeden vierten Erwachsenen als adipös ein. Auch wenn Übergewicht manchmal noch immer als reines Lifestyle-Problem gesehen wird, ist es wissenschaftlich inzwischen erwiesen, dass es sich um eine chronische Krankheit handelt, für die eine genetische Prädisposition vorliegen kann und die oft nur mit medikamentöser Behandlung in den Griff zu bekommen ist.
Nicht nur für den einzelnen Betroffenen, auch für das Gesundheitssystem ist Übergewicht eine enorme Belastung: Immerhin ist es für viele Krankheiten wie Diabetes Typ 2, Herzkreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebsarten einer der Hauptrisikofaktoren. Hinzu kommen bei vielen Betroffenen psychiatrische Begleiterscheinungen wie etwa Depressionen und soziale Ängste.
Eine Pille zum Abnehmen
Da gerade bei stark übergewichtigen Menschen Strategien zum Abnehmen, die auf einer Veränderung des Lebensstils beruhen, oft versagen, ist der Wunsch nach medikamentöser Hilfe groß. So lässt sich durch bestimmte Wirkstoffe beispielsweise das Hungergefühl beeinflussen. Aber obwohl der stetig wachsende Markt die Entwicklung derartiger Wirkstoffe für die Pharmaindustrie interessant macht, existieren noch immer keine Präparate, die effektiv und gleichzeitig sicher sind. Denn da „Appetitzügler“ im Gehirn wirken, beeinflussen sie oft auch andere Aspekte des Verhaltens oder der Psyche.
Tatsächlich haben alle der bisher zugelassenen Wirkstoffe mehr oder weniger starke Nebenwirkungen, darunter auch Depressionen und Angstzustände bis hin zu Selbstmordgedanken, was beispielsweise der Grund dafür war, dass das Medikament Acomplia mit dem Wirkstoff Rimonabant (ein selektiver Antagonist des Cannabinoid-Rezeptors 1) wieder vom Markt genommen wurde. Diese Lücke möchte das schweizerische Start-up EraCal Therapeutics schließen. Die gemeinsame Ausgründung der Universität Zürich und der Harvard University hält bereits das Patent an einem Wirkstoff-Kandidaten, der bis 2028 als Appetitzügler oder Anorektikum auf den Markt gebracht werden soll.
Wirkstoffsuche an Fischlarven
Gegründet wurde das Unternehmen, dessen Name sich von „Erasing Calories“ ableitet, im Jahr 2018 von Josua Jordi und Simon Breitler, die als Biochemiker bzw. Chemiker an der Universität Zürich bzw. der ETH Zürich promoviert haben. Anschließend gingen beide für eine Postdoc-Zeit nach Harvard, wo zumindest Jordi bereits mit Appetitzüglern in Berührung kam: Gemeinsam mit Florian Engert entwickelte er ein cleveres Screeningsystem, um Wirkstoffe zu finden, die den Appetit reduzieren, aber gleichzeitig wenig Nebenwirkungen aufweisen.
Dabei setzten die Forscher statt auf biochemische Tests auf Verhaltenstests mit Zebrafischlarven. Da die Tiere leicht zu halten sind und sich schnell vermehren, lassen sich mithilfe von automatisierten Messverfahren tausende Tiere gleichzeitig untersuchen. So wurde ihnen beispielsweise fluoreszierendes Futter angeboten, das in den durchsichtigen, vier Millimeter großen Larven quantifiziert werden konnte – als Maß für den Appetit. Zusätzlich wurden die Reaktion der Tiere auf Licht und Töne sowie ihre Lernfähigkeit dokumentiert. Am Ende konnten die Forscher auf diese Weise Substanzen auswählen, die die Fische weniger fressen ließen, sie aber ansonsten nicht beeinflussten (siehe: Science Adv, 4(10):eaav1966).
Gemeinsam mit Thomas Lutz vom Institut für Veterinärphysiologie der Uni Zürich testete das Team die vielversprechendsten Wirkstoffe an Mäusen und Ratten, woraufhin ein kleines Molekül übrig blieb. Die Gabe der als Era-107 bezeichneten Substanz führte dazu, dass die Mäuse in einem Jahr 14 Prozent ihres Gewichts verloren – rund das Doppelte im Vergleich zu anderen Appetithemmern.
Neuer Wirkmechanismus
Wie Era-107 wirkt, ist vorerst ein Firmengeheimnis. Bekannt ist nur, dass es sich um etwas Neues handelt, also nicht um einen Lipasehemmer wie bei Orlistat, einen Opioid-Antagonisten bzw. Dopamin-Norepinephrin-Wiederaufnahmehemmer wie beim Kombinationspräparat Naltrexon/Bupropion, einen Agonisten des Peptidhormons GLP-1 wie bei Liraglutid oder ein Amphetamin-Derivat mit einem GABA-Inhibitor wie bei der Kombination Phentermin/Topiramat.
Im Jahr 2023-24 soll der Hoffnungsträger erstmals am Menschen getestet werden; die Markteinführung ist – sofern alle klinischen Studien gut verlaufen – für 2028 geplant. Daneben soll das Fischlarven-Screeningsystem in Zukunft auch für die Suche nach weiteren Wirkstoffen, beispielsweise gegen Depressionen, zum Einsatz kommen. Dass Investoren EraCal großes Potenzial bescheinigen, zeigt die Tatsache, dass das Unternehmen 2020 erstmals als eines der 100 erfolgversprechendsten Start-ups den TOP 100 Swiss Start-up Award zugesprochen bekam.
Larissa Tetsch
Bild: EraCal