„Muskel-Mann“ und „Neuro-Typ“

(12.02.2021) Aus unserer Reihe „Anekdoten aus dem Forscherleben“: Wie eine fruchtbare Kooperation an den Egos der beiden Protagonisten scheiterte.
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Editorial

Es war einmal ein Muskelforscher. Dieser startete vor einigen Jahren ein Projekt, in dem er die Koordination des Zusammenspiels bestimmter Muskelgruppen studieren wollte. „Sicherlich würde dazu auch neurobiologische Expertise nötig sein“, dachte er bei sich. „Doch da ich eher ein ‚Muskel-Mann‘ bin, ist mein Wissen dazu leider eher begrenzt – vor allem was die Methodik betrifft.“

Also beschloss er, sich einen „Neuro-Typ“ zur Mitarbeit an diesem Projekt zu suchen. Und prompt fiel ihm ein Kollege ein, den er bei einem gar nicht mal lange zurückliegenden Kongress über allgemeine neuronale Bewegungskontrolle vortragen hörte – und dessen eigene Studien zum Thema er damals für durchaus klug und originell hielt. Als „Muskel-Mann“ ihm schließlich das Projekt zur Kooperation vorschlug, stimmte er sofort zu.

Und so begann die Zusammenarbeit zwischen „Neuro-Typ“ und „Muskel-Mann“.

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Bis heute nicht veröffentlicht

 

Das Projekt gedieh bemerkenswert schnell. Die Ergebnisse der beiden Gruppen waren eindeutig und schienen sich sehr gut zu ergänzen. Am Ende sprang eine derartige Fülle von Einsichten und Erkenntnissen heraus, dass „Muskel-Mann“ dachte, er sei nun in der Lage, mit ihnen ein robustes und umfassendes Modell für die neuromuskuläre Kontrolle des ganzen Koordinationsprozesses vorzuschlagen.

Es schien also, als würde die Welt bald wichtige Erkenntnisse erfahren. Doch dann blieb das Ganze in der Pipeline schlichtweg stecken. Bis heute sind keine Daten der vermeintlich so fruchtbaren Kooperation erschienen.

Was war passiert?

„Neuro-Typ“ konnte „Muskel-Manns“ neuromuskulärem Steuerungsmodell einfach nicht zustimmen. „Da gibt es diesen einen Punkt auf der Neuro-Seite Ihres Modells, von dem ich denke, dass er nicht wahr sein kann“, gab er zu bedenken. „Und leider ist das genau der Aspekt, zu dem wir definitiv die schwächsten Daten haben, um ihn zu unterstützen.“

„Und was schlagen Sie vor?“, fragte „Muskel-Mann“.

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"Ich habe einen Ruf zu verlieren"

 

„Tja, ich muss zugeben, dass ich ratlos bin. Ich bezweifle, dass wir bessere Daten bekommen, wenn wir dasselbe nochmal versuchen. Und leider habe ich, ehrlich gesagt, nicht die leiseste Idee für einen alternativen Ansatz. Und glauben Sie mir, ich habe mehr als ausgiebig darüber nachgedacht.“

„Und was bedeutet das für unser Paper?“, fragte „Muskel-Mann“ behutsam.

„Ich befürchte, wir können es mit diesem Modell nicht veröffentlichen“, verkündete „Neuro-Typ“ mit fester Stimme.

„Aber ohne das Modell wird das Papier nur halb so stark sein“, gab „Muskel-Mann“ einigermaßen verständnislos zurück.

„Ja, stimmt – und das ist sehr schade“. „Neuro-Typ“ war unbeeindruckt. „Aber was können wir sonst tun? Sie müssen doch verstehen, dass ich unmöglich meinen Namen unter lediglich schwach unterstützte Spekulationen über bestimmte neuronale Mechanismen setzen kann. Die Leute in meinem Feld werden mich in der Luft zerreißen. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.“

„Muskel-Mann“ versuchte es ein letztes Mal. „Nein, das glaube ich nicht. Schließlich funktioniert Wissenschaft genau so: Man präsentiert ein Modell, das erstmal vielleicht nicht ganz so robust ist. Trotzdem können es andere als Ausgangspunkt für neue Experimente nehmen und neue Daten erzeugen. Und am Ende kann man das Modell an bestimmten Punkten modifizieren, um es robuster zu machen – oder sogar durch ein besseres ersetzen, das ebenfalls robuster ist. Aber in beiden Fällen haben wir dann einen Erkenntnisfortschritt! Warum sollten wir also nicht auch mit unserem Modell diesem Prozess eine Chance geben?“

„Es ist Ihr Modell, nicht unseres“, entgegnete „Neuro-Typ“ schroff. „Und ich werde meinen Namen nicht darunter setzen. Ende der Diskussion!“

 

Verlierer Wissenschaft

 

Was soll man sagen: Egomanie in Reinkultur. Kein Wille, wahrscheinlich nicht einmal die Fähigkeit, zu irgendeinem praktikablen Kompromiss zu kommen.

Aber „Muskel-Mann“ entpuppte sich in dieser Hinsicht als kaum besser. Schließlich wäre es immer noch möglich gewesen, das Manuskript von seiner Seite in Richtung eines Kompromisses umzuschreiben – oder „Neuro-Typ“ den Vorschlag zu machen, dennoch weiterhin gemeinsam im Guten zu versuchen, neue Ideen und Daten zu produzieren.

Vorausgesetzt, beide wären grundsätzlich bereit gewesen, die Zusammenarbeit trotz dieser Meinungsverschiedenheit fortzusetzen. Dazu waren aber letztlich beide Egos zu stark.

Und daher passierte einfach … nichts! „Neuro-Typ“ konnte nichts ohne Muskel-Daten veröffentlichen, und „Muskel-Mann“ nichts ohne Neuro-Daten. Folglich hat nicht ein Ergebnis aus der eigentlich fruchtbaren „Zusammenarbeit“ bislang das Licht der Forscherwelt erblickt.

Eine Geschichte ohne Gewinner also, dafür aber mit einem klaren Verlierer: der Wissenschaft.

 

Ralf Neumann

(Foto: fotocommunity / est_photofan)

 

(Die einzelnen Geschichten dieser Kolumne sind uns in aller Regel nicht genau so, aber doch sehr ähnlich referiert worden – oder selbst passiert.)

 

 

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Letzte Änderungen: 11.02.2021