Von Botswana lernen, heißt siegen lernen!

(02.03.2021) Gerade mal drei randomisiert kontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Social-Distancing-Maßnahmen hat der Wissen­schaftsnarr weltweit gefunden.
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Editorial

Solange die Mehrheit der Bevölkerung nicht immun gegen SARS-CoV-2 ist, muss das Gesund­heitssystem vor dem Kollaps durch Überlastung mit COVID-19-Patienten geschützt werden. Seit einem Jahr erproben wir daher mit einigem Erfolg Maßnahmen, die von verstärktem Hände­waschen bis hin zum totalen Lockdown reichen. Dabei werden Maßnahmen eingeführt, verschärft, gelockert oder abgeschafft, um dann wieder eingeführt zu werden, … – und so geht’s dahin.

Die Politik begründet ihr Vorgehen mit Inzidenz­werten, Auslastung von Kranken­häusern, Modell­rechnungen und dem Rat von Experten (siehe hierzu auch den „Wissen­schaftsnarren“ in LJ 11/2020: 22-24). Unbestritten haben viele dieser (Anti-)Corona-Maßnahmen enorme Plausibilität. Auch ist die Einsicht trivial, dass ein totaler Lockdown die Verbreitung eines Virus stark einschränken kann. Der ist aber nicht ewig durchzuhalten. Ungemein relevant ist deshalb die Frage, welche der Maßnahmen aus der Blackbox „Lockdown“ Wirkung haben, und bei welchen der Schaden den Nutzen überwiegt. Man könnte mit diesem Wissen ein evidenz­basiertes Paket von Corona-Maßnahmen schnüren, das weniger drastisch ist als der Lockdown – aber genauso effektiv. Und nebenbei vielleicht doch so manchen Skeptiker noch zum Mitmachen bewegen.

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Deshalb ist die Frage, welche Evidenz wir für die Wirk­samkeit einzelner Maßnahmen haben, so wichtig. Aber Vorsicht! Die Frage nach der Evidenz von Corona-Maßnahmen ist inzwischen recht gefährlich geworden. Denn man läuft Gefahr, sofort ins Lager der Virus-Leugner, Querdenker (was früher eigentlich eher ein Kompliment war) und Rechts­radikalen verortet zu werden. Oder man wird gleich als Narr abgestempelt – weshalb das Thema letztlich ja auch in mein Ressort fällt. Und deswegen möchte ich in dieser Sache unsere Aufmerk­samkeit jetzt auf Botswana lenken.

Wir haben eine Flut von Studien, die die Wirk­samkeit von Corona-Maßnahmen mittels statistischer Model­lierung untersuchen – und nicht ganz über­raschend zu sehr unter­schiedlichen Ergebnissen kommen. Schließlich führen gering­fügige Verän­derungen von Modell-Parametern häufig zu ganz anderen Vorhersagen. Abgesehen davon, dass sich zudem die Modellierer unter­einander ihre Modelle madig machen. Und wer von uns würde sich schon zutrauen, deren Qualität, Validität und Prädiktivität einzuschätzen?

Dazu gibt es eine Flut von Beobach­tungsstudien, welche die Effekte von Corona-Maßnahmen zum Gegenstand haben. Aber solche Beobach­tungsstudien liefern nur schwache Evidenz und erlauben keine kausalen Schluss­folgerungen. Was wir deshalb bräuchten, sind randomisierte und kontrollierte Studien (RCT), in denen spezifische Corona-Maßnahmen als Intervention getestet werden. RCTs sind schließlich der Goldstandard zur Überprüfung thera­peutischer Inter­ventionen in der Medizin – und deshalb ganz nebenbei auch die Grundlage für die Zulassung der Corona-Vakzinen.

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Nun schätzen Sie mal, wie viele RCTs es bislang gab, die die Wirksamkeit von Social-Distancing-Maßnahmen untersucht haben?

Ich konnte nur drei finden. Weltweit!

Eine in Norwegen, in der den Teilneh­merinnen und Teilnehmern randomisiert die Nutzung von Fitness­studios erlaubt beziehungs­weise verboten wurde. Dann die dänische „Masken-Studie“, in der das Tragen von Gesichts­masken in der Öffentlichkeit untersucht wurde – und das zu einer Zeit, in der dies noch nicht Pflicht war. Die Teilnehmer wurden per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt – eine trug Masken, die andere nicht. Endpunkt war in beiden skandina­vischen Studien, die jeweils mehrere tausend Teilnehmer rekrutieren konnten, das Auftreten von SARS-CoV-2-Infektionen.

Außerdem lief eine sehr interessante Intervention – Sie haben es sicher schon vermutet – tatsächlich in Botswana! Auch dort wurden die Schulen wegen Corona geschlossen – und umgehend verglich man, ob sich mittels „Low-Tech“-Maßnahmen dennoch ein Lernerfolg erzielen ließe. Hierzu wurden Schü­lerinnen und Schüler in die folgenden drei Gruppen randomisiert: kein Unterricht, täglicher Kontakt mit Lehrkräften via SMS oder dasselbe via Anruf. Dort haben Schüler nämlich keine Smartphones oder Laptops.

Ich will hier jetzt nichts zu den Ergebnissen, der Qualität oder auch über die Über­tragbarkeit dieser drei Studien auf Deutschland sagen. Allerdings ist es schlichtweg ein Skandal, dass es bisher nur Botswana geschafft hat, eine rando­misierte Interven­tionsstudie zu den Auswirkungen der mit am heftigsten diskutierten Corona-Maßnahme durchzu­führen, von der weltweit bisher immerhin 1,6 Milliarden Schü­lerinnen und Schüler betroffen sind. Und das ein Jahr nach Beginn einer weltweiten Pandemie, für die es immer noch keine spezifische Therapie gibt. Konkret also nach über 100 Millionen gesicherten Infektionen und 2,3 Millionen assoziierten Toten samt einer Kakophonie von fluktuierenden, teils drastischen Maßnahmen der sozialen Distanzierung.

Statt auf randomisiert kontrollierte Studien verlassen sich unsere Model­lierer und Politiker auf Beobach­tungsdaten – inklusive solcher, die in der Zeit der Spanischen Grippe von 1918/19 erhoben wurden. Wäre es nicht an der Zeit zu untersuchen, ob ein totaler Lockdown von Alters- und Pflege­heimen effektiver ist als die Kombina­tionsstrategie aus negativem Virus­nachweis (PCR), Schnelltests an Eingängen und FFP2-Maske? Oder ob komplette Schul­schließungen besser wirken als die Kombination von Masken, Tests und Wechsel­unterricht? Ich bin sicher, Ihnen fallen noch ein paar weitere interessante Fragen dieser Art ein.

Jetzt werden Sie vermutlich sagen: So ein Narr, so ein Sofa-Epide­miologe! Fordern kann man sowas natürlich. Aber kontrollierte Interven­tionsstudien zu Social Distancing? Das geht doch gar nicht! Sind Sie da so sicher? Hat es denn jemand versucht bei uns? Und ist damit gescheitert – sodass wir wissen würden, wie man es mit einem modifizierten Ansatz besser machen könnte? Es sieht leider ganz so aus, als wäre das nicht der Fall.

Schon aus der Botswana-Studie sowie den beiden skandina­vischen und einer weiteren geplanten, aber nie durch­geführten norwegischen Schul­schließungs­studie hätten wir viel lernen können. Zunächst einmal, dass es ganz grund­sätzlich machbar ist. Die Methoden für solche Studien stehen im Prinzip. Sie kommen aus der ganz normalen klinisch-epidemio­logischen Studien­routine, aber auch von randomisiert kontrollierten Inter­ventionen, die mittlerweile auch in den Erziehungs-, Wirtschafts- und Sozial­wissenschaften durchgeführt werden. Man kann solche Studien sowohl auf der Ebene von Individuen wie auch derjenigen von Gruppen machen. Letzteres zum Beispiel in sogenannten Cluster-Randomised Trials, die auch in klinischen Frage­stellungen häufig eingesetzt werden.

Einfach ist das natürlich nicht, ganz besonders unter den Bedingungen einer Pandemie. Um ein brauchbares Protokoll für solch eine Studie aufzusetzen, muss man sich eine Menge Gedanken machen.

Nehmen wir ruhig das Beispiel Schul­schließungen: Welche „Dosis“ und welches Timing soll die Inter­vention haben? Randomisiert man Schul­schließung versus Wechsel­unterricht und verringerter Klassenstärke? Welche Klassen­stufen sollen untersucht werden, wie groß dürfen die Klassen sein, wie oft wird gelüftet? Welchen primären Outcome wählt man? SARS-CoV-2-Infektionen, na klar! Aber in welchem Kollektiv? Im Landkreis, in der Umgebung der Schule, nur bei Eltern und Schülern?

Außerdem will man ja auch etwas über die sonstigen Auswirkungen erfahren. Führen solche Schließungen zum Beispiel später zu schlechterem Bildungs­niveau und Abschlüssen? Aber nach welcher Zeit, und wie gemessen?

Im Schulschließungs­fall geht das schließlich auch nicht auf der Ebene von Individuen. Man kann nicht einzelne Schülerinnen und Schüler aus einer Klasse in die Studien­gruppen randomisieren. Also muss man Schulen oder Schulbezirke randomisieren. Würden Eltern bei so etwas zustimmen? Inwieweit ist ihre Einwilligung überhaupt nötig? Der Staat fragt die Eltern ja auch nicht, bevor er Schulen auf- oder zumacht.

Ethisch ist so etwas immer dann unproble­matisch, wenn man nicht weiß, welche Maßnahme besser ist – also wenn potenzieller Nutzen und Risiko bei Intervention und Kontrolle gleich verteilt sind. Die Ethiker nennen das Equipoise. Bei Schul­schließungen ist das der Fall. Aber selbst wenn eine Ethik­kommission zustimmt, welche Schulbehörde würde dabei mitmachen? Würde es einen Aufstand von unwilligen Eltern geben?

Fragen über Fragen. Und so sieht man an diesem Beispiel, dass es ganz und gar nicht einfach ist, solche Interventionen zu planen und durchzuführen. Aber man könnte sich ja zunächst etwas einfachere und ebenso wichtige Frage­stellungen vornehmen – wie beispielsweise, welche Hygiene­maßnahmen in Restaurants wirksam sind.

Sollten Sie jetzt denken, das geht doch sowieso alles nicht, denn wir sind ja schon mitten im Lockdown – dann irren Sie sich. Man bräuchte die zeitliche Sequenz ja nur umzudrehen und nicht die Einführung der Maßnahme, sondern deren Lockerung als Intervention zu testen. Außerdem wechseln wir ständig von strengeren zu weniger strengen Maßnahmen und wieder zurück – eigentlich also ideale Bedingungen für kausale Studien.

Mein Punkt ist allerdings vielmehr: Solange man sich gar nicht auf den Weg macht und somit nicht versucht, Hindernisse zu überwinden sowie neue Untersu­chungskonzepte und Methoden zu entwickeln – solange ist das Argument, dass man die Blackbox „Lockdown“ nicht knacken könne, falsch und gefährlich. Und selbst wenn man jetzt tatsächlich keine Antworten mehr bekäme, die in dieser Pandemie politische Entscheidungen auf eine rationale Grundlage stellen würden: Die nächste Pandemie kommt bestimmt. Vielleicht sind wir ja sogar schon mittendrin, mit irgendeiner der Mutanten. Insbesondere wenn die derzeitigen Impfstoffe gegen eine davon tatsächlich nicht mehr wirken sollten. Denn dann hieße es: Und ewig grüßt das Murmeltier – Lockdown, Lockerung, Lockdown… und so weiter.

Aber was rege ich mich eigentlich über das Fehlen randomisiert kontrollierter Studien auf? Bei uns werden ja nicht einmal einfach durchzu­führende und extrem aussage­kräftige observationale Studien und Daten­erhebungen durchgeführt. Wissen wir, ob Pflegekräfte, Paket­ausfahrer oder Supermarkt­kassierer häufiger SARS-CoV-2-positiv sind – und häufiger sympto­matisch? Wäre doch eigentlich recht gradlinig: Man müsste doch nur die Berufs­gruppen melden, zusammen mit den Virus-Testergebnissen.

Und wieso kennen wir eigentlich nicht die Dunkelziffer der Infizierten – also derer, die nicht getestet wurden, aber dennoch vom Virus befallen waren? Das ist nicht nur für die Berechnung der infektiösen Mortalität wichtig, sondern auch für die Frage, wie weit man schon in Richtung Herden­immunität ist. Wie wäre es dazu mit zufällig ausgewählten Stichproben, die in repräsen­tativen Regionen (Stadt, Landkreis, Bundesland,…) wiederholt getestet werden – so wie das in der ersten Welle in München gemacht wurde? Wieso gibt es eigentlich keine flächen­deckende, systematische molekular­genetische Überwachung der Virusgenome? Wenn man erstmal zig Milliarden für die Pandemie­bekämpfung ausgegeben hat, ist dieses Versäumnis zumindest ökonomisch nicht mehr zu begründen.

Stattdessen starren wir wie hypnotisiert auf die tägliche Verkündung der gemeldeten Infektions­zahlen, und auf die Vakzinierung. Vier Prozent des Forschungs-Outputs der gesamten Welt im Jahr 2020 befasste sich mit Corona. PubMed listet bereits über hundert­tausend Artikel zum Thema. Mehr als 4.000 klinische Corona-Studien sind bei Clinicaltrials.gov registriert, mehrere hundert davon haben die Wirkung von Chloroquin getestet. Studien, die mittels einer randomisierten und kontrollierten Intervention heraus­zufinden versuchen, was bei der sozialen Distanzierung etwas nützt und was dabei schadet, kann man dagegen an einer Hand abzählen.

In Botswana kam übrigens heraus, dass sowohl Textnach­richten als auch Anrufe der Lehrer bei den Eltern und Schulkindern deren Interaktion signifikant verbessern konnten – und damit die Rechen­fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler gegenüber denjenigen in der Kontroll­gruppe erhöhten. Deshalb kriegen jetzt alle Familien mit Schulkindern Textnach­richten und Anrufe.

Ulrich Dirnagl


Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj


Mehr vom Wissenschaftsnarren gibt es hier.

 



Letzte Änderungen: 02.03.2021