Patienten aus der Bronzezeit
(17.05.2021) Katharina Fuchs ist physische Anthropologin mit einer Vorliebe für Skelette. Wir sprachen mit ihr über seltene Krankheiten im archäologischen Kontext.
Wie erforschen Sie seltene archaische Erkrankungen?
Katharina Fuchs: In Kiel führen wir morphologische Analysen an Skeletten durch, das heißt, wir benutzen Auge und Lupe und vermessen die Knochen. Wir analysieren, ob es Abweichungen vom gesunden Knochenbild gibt und bestimmen Sterbealter und Geschlecht der Individuen. Wenn wir auffällige Läsionen finden, führen wir histologische Untersuchungen unter dem Mikroskop durch und setzen bildgebende Röntgen- und Computertomografie ein. Auf molekularer Ebene analysieren wir das Genom, um genetische Prädispositionen zu identifizieren oder untersuchen Biomarker, beispielsweise anhand von Proteinresten in Zahnstein.
Ich habe meine jetzige Stelle am Institut für Klinische Molekularbiologie vor zwei Jahren angetreten. Wir sind noch dabei, vieles zu etablieren. Ein großes Glück ist, dass die Stelle ans Universitätsklinikum Schleswig-Holstein angebunden ist. Für eine Differentialdiagnose können wir so viele verschiedene Methoden anwenden.
Welche Erkenntnisse konnten Sie bisher gewinnen?
Fuchs: Wir wissen bisher nur wenig darüber, wie Gesellschaften in der frühen Menschheitsgeschichte mit Krankheiten umgegangen sind und ob seltene Erkrankungen als solche wahrgenommen wurden. An einem bronzezeitlichen, 4.000 Jahre alten Skelett aus dem Nordkaukasus konnten wir feststellen, dass dieser Mann zu Lebzeiten an einer Hüftdeformation litt und dadurch gehbehindert war. Die genaue Bezeichnung seiner Erkrankung ist Morbus Legg-Calvé-Perthes. Sie gilt heute als seltene Krankheit. Zudem erlitt er eine Bein- und Schädelverletzung, die ihn pflegebedürftig machte. Wir wissen auch, dass er weiterhin in bestimmte Arbeitsprozesse integriert war. Anhand seiner Bestattung schließen wir, dass er eine eher durchschnittliche soziale Stellung innehatte. Dies zeigt, dass Betroffene auch in der Vergangenheit soziale und medizinische Fürsorge erfahren haben.
Vor welche Herausforderungen stellt Sie Ihr Forschungsgebiet?
Fuchs: Wir können nicht unreflektiert die heutige Diagnostik anwenden, da wir meist nur noch das Skelett und nicht mehr die Weichteile vorliegen haben. Oft ist das Skelett auch nur schlecht oder unvollständig erhalten. Verschiedene Krankheiten können ähnliche Veränderungen am Skelett hervorrufen, wofür wir Differentialdiagnosen brauchen. Manche seltenen Syndrome manifestieren sich am Knochen, führen zu Lebzeiten aber nicht zu körperlichem Leiden. So ist die Interpretation beobachteter Krankheiten sehr komplex.
Wie stellen Sie fest, dass es sich tatsächlich um eine seltene archaische Erkrankung handelt?
Fuchs: Hier besteht noch Forschungsbedarf (Int J Paleopathol, 32:61-73). Heute gilt in Europa eine Krankheit als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen diese Krankheit haben. Für die Vergangenheit lässt sich ein solcher Schwellenwert nicht berechnen, da wir die Größe archaischer Populationen nicht genau kennen. Auch die Zahl der Funde und Publikationen spielen eine wesentliche Rolle. Was den Morbus Legg-Calvé-Perthes betrifft, sind bisher 22 paläopathologische Fallstudien bekannt.
Die Lebensbedingungen des Menschen haben sich im Laufe der Jahrtausende stark verändert. Es wurden andere körperliche Anforderungen als heute an ihn gerichtet, seine Ernährung war anders, er war anderen Krankheitserregern ausgesetzt und die heutigen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten fehlten. Dadurch hat sich auch die Häufigkeit bestimmter Krankheiten, auch seltener Krankheiten, im Laufe der Zeit verändert. Was heute selten ist, kann in der Vergangenheit häufig gewesen sein und umgekehrt. Bei erblich bedingten Syndromen ist dies etwas komplexer, und das sind circa 80 % der heute bekannten seltenen Krankheiten.
Braucht man als Paläopathologin ein Medizinstudium oder überwiegt der Anteil der Archäologie?
Fuchs: Die Kombination beider Fächer ist sehr sinnvoll. Ich selbst habe in Kiel Archäologie mit Schwerpunkt auf den frühen Epochen studiert. Als Nebenfächer hatte ich Anthropologie und Zoologie. Auch Kurse in der Rechtsmedizin habe ich belegt. Als ich mein erstes Skelett auf einer Grabung in Bosnien freigelegt hatte, da wusste ich, das ist es. Am Ende meiner Diplomarbeit traf ich dann die Paläopathologin des Deutschen Archäologischen Instituts, die Medizinerin Julia Gresky. Von ihr habe ich viel darüber gelernt, wie man Krankheiten am Skelett erkennt, beschreibt und interpretiert. Am spannendsten finde ich Neolithikum und Bronzezeit, weil in diesen Epochen tiefgreifende Veränderungen der menschlichen Lebensweisen stattfanden, wir aber keine schriftlichen Quellen hierzu haben.
Wie ging es nach dem Diplom wissenschaftlich für Sie weiter?
Fuchs: In meiner Doktorarbeit habe ich anhand von Bestattungen und Skeletten Untersuchungen zu Sozialstruktur, Erkrankungen des Zahnapparates und zur Ernährung einer bronzezeitlichen Population im Nordkaukasus durchgeführt. Gegen Ende meiner Doktorarbeit war ich wissenschaftliche Koordinatorin beim Kieler SFB 1266 „TransformationsDimensionen“ und habe mich hauptsächlich mit Wissenschaftsmanagement beschäftigt. Ich hatte dann das große Glück, dass die Spezialisierung auf Menschenknochen in der Kieler Forschungslandschaft als Potential erkannt wurde, und so kann ich meine Forschungen nun mit der jetzigen Stelle in der Arbeitsgruppe für „Alte DNA“ ausbauen.
Inwieweit profitieren Sie von der Zusammenarbeit im Sonderforschungsbereich 1266 und im Exzellenzcluster ROOTS an der Universität Kiel?
Fuchs: Beide widmen sich ja der Erforschung von Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt in vergangenen Zeiten, wenn auch mit sehr unterschiedlichem Fokus. Im SFB und dem Exzellenzcluster führen wir mit der Arbeitsgruppe für „Alte DNA“ verschiedene Projekte zu Infektionskrankheiten und Ernährung durch. Zudem ist die Arbeitsgruppe eng mit dem Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ an der Universität Kiel verknüpft. Dies ist für die biomedizinische Seite unserer Forschung, beispielsweise für die Untersuchung von Entzündungskrankheiten über die Jahrtausende hinweg, sehr förderlich.
Welche Fragen wollen Sie als Nächstes angehen?
Fuchs: Vor zwei Jahren haben meine Berliner Kollegen den ersten internationalen Workshop zu seltenen archaischen Erkrankungen veranstaltet. Dieses Forschungsgebiet steht noch am Anfang, wir müssen hier erst noch eigene Kriterien entwickeln. Darüber hinaus bin ich am Zusammenhang von Immunstatus und Krankheitsbelastung interessiert und wie tiefgreifende Veränderungen der Menschheitsgeschichte darauf Einfluss nahmen – oder auch andersherum.
Das Interview führte Bettina Dupont
Bild: Katharina Fuchs/CAU Kiel
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