Eine Welt voller Amyloide
(21.06.2021) Was war das erste Biopolymer, das in der Ursuppe replizierte und evolvierte? Züricher Biophysiker propagieren eine neue Idee.
„Alles eine Frage der Komplexität!“, sagt Roland Riek, Professor für Physikalische Chemie an der ETH Zürich, und überdenkt damit die Schlüsselrolle von RNA im Ursprung allen Lebens. Nach gängiger Lehrmeinung sollen selbst-replizierende RNA-Polymere vor vier Milliarden Jahren die Speicherfunktion von DNA und die katalytische Aktivität von Proteinen in sich vereint und die Entwicklung lebender Systeme angestoßen haben. Ribozyme zeugen noch heute von dieser Vergangenheit.
Doch der Biophysiker Riek ist skeptisch: „RNA ist zu komplex, als dass sie de novo entstanden sein könnte. Nicht mal funktionale Nukleotide lassen sich unter den harschen Bedingungen der Uratmosphäre herstellen. Bisher ist das nur für einfache Nukleotid-Vorläufer gelungen. Auch auf Meteoriten kommen nur eintausend Mal weniger Nukleotide als Aminosäuren vor. Entsprechend unwahrscheinlich ist RNA als Ursprung des Lebens.“
Eine andere Welt
Schon Leslie Orgel, einer der Väter der RNA-Welt-Hypothese, war sich ihrer mangelnden Stabilität in der Ursuppe bewusst. „Jahrelang hat er mich jeden Freitag beim Mittagessen am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien, bearbeitet,“ erinnert sich Riek grinsend. „Er überzeugte mich, mir eine Alternative anzuschauen – eine Amyloid-Welt sich selbst-propagierender β-Faltblätter. Aminosäuren waren damals schließlich reichlich vorhanden.“
Amyloide sind heutzutage vor allem durch neurodegenerative Erkrankungen wie den Alzheimer-, Parkinson- und Creutzfeldt-Jakob-Krankheiten bekannt. Welche Eigenschaften lassen sie als präbiotische Informationsträger in Frage kommen? Ähnlich zu Nukleinsäuren sind Amyloide fibrilläre Biopolymere aus geordneten Wiederholungseinheiten. Im Gegensatz zu Nukleinsäuren codieren sie Information aber nicht über Sequenz-komplementäre Doppelstränge. Anstelle dessen binden sie über Wasserstoffbrücken kurze Peptide quer zu ihrer fibrillären Längsachse und zwingen deren Rückgrat die individuelle Konformation ihres β-Faltblattes auf. Zusätzlich verzahnen die Seitenketten benachbarter β-Stränge ähnlich einem Reißverschluss und wachsen so zu elektronenmikroskopisch sichtbaren Fibrillen von bis zu mehreren Mikrometern Länge.
Vielfältige Fibrillenstrukturen
Nicht alle Peptide binden gleich gut, was strukturell kompatible Aminosäure-Sequenzen begünstigt. Als Informationseinheit dient Amyloiden also eine Präferenz für bestimmte Konformationen. Je nach paralleler oder anti-paralleler Anordnung der β-Stränge und je nach Ausrichtung der β-Faltblätter zueinander entsteht so eine Vielfalt polymorpher Fibrillenstrukturen. Zerbrechen überlange Fibrillen, entsteht eine Tochtergeneration neuer Nukleationskeime, die ihrerseits wachsen.
„Replikation und Informationstransfer sind in einer Amyloid-Welt ungenau,“ gibt Riek zu. „Ob sich an einer bestimmten Position beispielsweise ein Valin-, Leucin- oder Isoleucin-Rest befindet, spielt keine große Rolle“. Indem Amyloide ein und demselben Peptidmonomer aber je nach chemischer Umgebung unterschiedliche Konformationen aufprägen, passen sie sich an. Sie evolvieren. „Ihre Kopierungenauigkeit schafft ihnen in einer präbiotischen Welt also einen evolutiven Vorteil,“ fasst Riek zusammen.
Ernstzunehmende Vorläufer des Lebens müssen neben Informationsspeicherung, Selbstreplikation und Evolvierbarkeit weitere Voraussetzungen erfüllen. Laut Riek punkten Amyloide erneut: „Sie sind simpel. Im Gegensatz zu komplexen Nukleinsäure-Systemen entstehen sie unter präbiotischen Bedingungen spontan.“ Den Beweis dafür erbrachten die Züricher Biophysiker 2016 (Angew Chem Int Ed Engl, 55(38):11609-13). Mit dem Vulkangas Carbonylsulfid (COS) als Katalysator polymerisierten sie Glycin, Alanin, Aspartat und Valin zu kurzen Peptiden, die ihrerseits ab einer Mindestlänge von sechs Aminosäureresten spontan zu amyloiden Fibrillen aggregierten. Noch immer macht Riek große Augen: „Alles funktionierte direkt ohne viel Rumbastelei. Aus präbiotischer Sicht ist COS-Gas in etwa das einfachste, was man sich vorstellen kann. Selbst in Mischungen unterschiedlicher Aminosäuren fanden wir Fibrillen.“
Spontane Entstehung
Peptide kondensieren nicht nur in der Nähe von Vulkanen, sondern auch in anderen präbiotischen Szenarien – zum Beispiel bei hohen Temperaturen und Salzkonzentrationen durch Kupfer-vermittelte Katalyse, also in tropischen Lagunen, und durch Nass-Trocken-Zyklen, also in Gezeitenbecken. Auch dort sollten Amyloide spontan entstehen.
Zwei Jahre später nahm Rieks Arbeitsgruppe die nächste Hürde. Sie demonstrierten, wie sich Amyloide unter präbiotischen Bedingungen mit Peptiden versorgen und ihren Vermehrungszyklus ankurbeln. Mit der Oberfläche ihrer β-Faltblätter als Vorlage katalysieren sie die Kondensation einzelner Aminosäuren einfach selbst, und zwar sequenzspezifisch und stereoselektiv. Das funktioniert selbst in bis zu vier molarer Salzkonzentration, bei bis zu 90 °C und bei pH-Werten zwischen 5 und 9, also Bedingungen, unter denen RNA und die meisten löslichen Proteine denaturieren (Nat Commun, 16;9(1):234).
Darüber hinaus können Amyloide auch andere einfache Reaktionen wie Hydrolysen, Aldolkondensationen und Oxidationen, wenn auch mit nur geringer Effizienz, katalysieren. Riek relativiert: „Lösliche, gefaltete Proteine haben dank ihrer Bindungstaschen natürlich mehr funktionelle Möglichkeiten. Auf einer Urerde stellt die Widerstandskraft von Amyloiden aber einen weiteren Replikations- und Evolutionsvorteil dar.“
Eingesperrte Peptide
Isoliert entwickelten sich auch Amyloide sicher nicht. Während ein einzelner amphipathischer β-Strang wenig affin ist, bindet die repetitive Oberfläche von Amyloiden nicht nur an Mineralien, sondern auch an andere Biopolymere wie Nukleinsäuren, Polysaccharide und Lipidmembranen. Eine Co-Evolution von Amyloiden und Lipidkompartimenten eruierten Riek und Kollegen deshalb in ihrer jüngsten Publikation (Angew Chem Int Ed Engl, 60(10):5561-8): Sie sperrten kurze Peptide alternierender Valin- und Aspartat-Reste in Vesikel aus Phosphatidylcholin, Ölsäure oder Caprinsäure ein, pipettierten membrangängiges, COS-aktiviertes Valin zur Gesamtlösung und warteten, was passiert. Über Nacht durchdrangen die Valinmoleküle die Lipidkompartimente und verlängerten deren Peptide um mehrere Reste. Als Folge überwanden Letztere die elektrostatische Abstoßung ihrer Aspartat-Seitenketten und fibrillierten. Außerhalb der Fettsäurevesikel verhinderte dagegen Diffusion jegliche Fibrillogenese – obwohl 14 Größenordnungen mal mehr Peptide zur Verfügung standen.
3D-Kryo-EM-Daten verrieten den Zürichern ein weiteres Detail: Die Fibrillen-Enden stehen oft mit der inneren Vesikelmembran in Kontakt. Das brachte Riek und seine Kollegen auf die Idee, ob vielleicht einzelne aktivierte Aminosäuren als Nukleationskeime ausreichen? Die Antwort ist ja. Tatsächlich entstehen Fibrillen auch ohne vorgefertigte Peptide spontan in Mischungen aus aktivierten Aminosäuren und Fettsäurevesikeln.
Zukünftige Code-Knacker
Offensichtlich mausern sich selbst-replizierende Amyloide in protozellulären Lipidkompartimenten zu einer erstzunehmenden Hypothese, wie molekulare Komplexität auf der jungen Erde evolvierte. Roland Riek blickt über den Tellerrand: „Die Gesamtinformation eines Organismus lässt sich wahrscheinlich aber nicht mit Amyloiden darstellen. Erbinformation in Nukleinsäuresträngen zu codieren, ist schon eine starke Idee. Deshalb brauchen wir eine nuancierte Hypothese zur Entstehung des Lebens, die alle Biopolymere einbezieht und in der Amyloide der RNA-Welt vielleicht als Gerüststruktur in ihrer Entwicklung halfen. Den genetischen Code während dieser präbiotischen Co-Stabilisierung und Co-Evolution würden wir gern knacken.“ Noch ist das freilich Zukunftsmusik. Und auch wie kurze Amyloidsequenzen zu langen, stabil gefalteten Proteinen evolvierten, ist eine andere Geschichte.
Henrik Müller
Bild: Boku wa Kage (CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons) & Pixabay/mohamed_hassan
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