Vielfältige Intuition

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

Im letzten Jahr schrieb der Grazer Wissenschaftshistoriker Elmar Schübl unter der Überschrift „Die Rolle der Intuition im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess“:

„Die Wissenschaftsgeschichte und die wissenschaftliche Praxis zeigen [...], dass jene Erkenntnisse, die das menschliche Selbst-und Weltverständnis stark verändern, eher nicht durch bewährte empirische Methoden und etablierte Denkweisen hervorgebracht werden. Es sind in der Regel spontan entworfene Hypothesen, die den Weg zu neuen Erkenntnissen eröffnen. Hier kommt die Intuition ins Spiel, deren Stärke das Entwerfen von Arbeitsthesen ist.“

Editorial

Das mag wohl stimmen. Aber nur teilweise. Denn mindestens genau so oft dürfte die reine Intuition viele Forscher letztlich zu falschen Arbeitshypothesen – und damit auf den sprichwörtlichen Holzweg geführt haben. Vielleicht sogar öfter.

Wobei das natürlich wahrlich keine neue Einsicht ist. Der US-Mathematiker Raymond Wilder fasste diese zwei Seiten der Intuition beispielsweise schon vor über fünfzig Jahren folgendermaßen zusammen (Science 156: 605-10):

„Die Hauptrolle der Intuition ist es, für eine konzeptionelle Basis zu sorgen, welche die Richtung für die weitere Forschung vorgibt. Sie liefert somit einen Educated Guess, der sich im Nachhinein als richtig, aber auch als falsch entpuppen kann.“

Beispiele für solche educated, aber falsche Guesses gibt es zuhauf.

Wie war das etwa mit der Zahl menschlicher Gene? Also derjenigen, die für Proteine kodieren? Sagten nicht so gut wie alle Experten voraus, dass diese die Hunderttausend weit übersteigen würden, nachdem man im Wurm-Genom von Caenorhabditis knapp zwanzigtausend aufgespürt hatte? Schließlich seien wir Menschen doch so viel komplexer als Würmer.

Heute wissen wir: Falsch geraten! In unseren Zellkernen tummeln sich nur unwesentlich mehr Protein-kodierende Gene als in denjenigen des Wurms. Wie wir damit höhere Komplexität zustande bringen, ist stattdessen... nun ja, komplexer.

Machen wir hier doch mal selbst einen Intuitionstest – und betrachten dazu ein ganz frisches Paper über eine Wasserlinse, auch bekannt als Entengrütze (Nat. Commun. 10: 1243). Konkret nahmen die Autoren aus Münster, Zürich, Jena und Indien die Vielwurzelige Teichlinse (Spirodela polyrhiza) ins Visier – und zwar aus dem einfachen Grund, dass es sie weltweit in Massen gibt. Allein in einem Teich können sich Millionen von Individuen der kleinen, schnell wachsenden Pflanze drängen.

Die Teichlinse hat demnach folglich eine enorme Populationsgröße. Und wenn es so unglaublich viele Individuen dieser Art auf Erden gibt, was würde man dann intuitiv bezüglich deren genetischer Vielfalt erwarten? Immerhin kann doch jedes einzelne Individuum Ziel von Mutationsereignissen sein? Die genetische Vielfalt der Teichlinse sollte daher doch ebenfalls hoch sein, oder?

Wenn man so fragt, ist die Antwort natürlich klar: Sie ist es nicht, ganz im Gegenteil! Nach Analyse von Teichlinsen-Genomen aus 68 Gewässern von überall auf der Welt verkünden die Autoren: Die genetische Vielfalt der Teichlinse ist eine der geringsten unter allen bisher untersuchten Mehrzellern.

Und sie schreiben auch, warum das wohl so ist. Da die meisten spontanen Mutationen Schaden anrichten, sollte die Selektion grundsätzlich niedrige Mutationsraten bevorzugen, erklären sie. Während jedoch bei kleinen Populationen noch andere Zwänge mit hineinspielen, können gerade große Populationen es sich leisten, diesem Selektionsdruck komplett nachzugeben und die Mutationsrate weitestmöglich herunterzufahren – mit dem Resultat, dass die genetische Vielfalt niedrig bleibt.

Eigentlich plausibel, oder? Auch wenn die Intuition uns erst etwas anderes vorgegaukelt hat.

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Letzte Änderungen: 17.06.2019