Editorial

Regelbrüche

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

Regeln sind was Schönes. Wenn feste und möglichst allgemeingültige Regeln existie­ren, werden die Einzelfälle berechenbar. Man weiß, wie sie sich hinsichtlich gewisser Aspekte grundsätzlich verhalten und was man von ihnen zu erwarten hat.

Nicht zuletzt deshalb ist auch die Suche nach universellen Regeln eines der größten Ziele der Wissenschaft. Und vor allem die Mathematik und Physik sind ja auch sehr erfolgreich darin. Zwei plus Zwei macht beispielsweise immer Vier – zu jeder Zeit und überall im Universum. Und ebenso universell gilt etwa Newtons Gesetz zur Wirkung der anziehenden Gravitationskraft zwischen zwei Massepunkten.

Die Biologie hat es da auf ihrem ureigenen Gebiet deutlich schwerer. Also jenseits davon, dass die Gesetze der Physik und Chemie natürlich auch in lebenden Organismen gelten – wie zum Beispiel das Gravita­tions­gesetz oder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Sicher gibt es auch in der Biologie „Regeln“, die uns allgemein und immer gültig vorkommen. Zum Beispiel, dass Leben grundsätzlich auf Nukleinsäuren basiert. (Bei den Proteinen wird es da schon schwieriger – Stichwort „RNA-Welt“). Aber gilt das tatsächlich für das ganze Universum? Und für alle Zeiten? Schon schwammiger, oder?

Nobelpreisträger Sydney Brenner legte sich diesbezüglich bereits vor einiger Zeit fest, als er im Gespräch mit Laborjournal sagte: „Es gibt in der Biologie (...) keinen allgemein gültigen Weg, wie man etwas verstehen kann. Biologie ist das Gebiet, in dem das Beispiel alles ist. Es ist nicht Beispiel für irgendetwas anderes. Es ist, was es ist.“

Man mag über die Absolutheit dieser Aussage streiten, doch eines ist sehr auffällig: Wie oft hatte man in der Biologie gemeint, gerade eine mehr oder weniger große Regel gefunden zu haben, als schon die ersten Ausnahmen bekannt wurden – und oftmals weitere folgten. Häufig hatte man am Ende gar so viele Ausnahmefälle identifiziert, dass man sie insgesamt nur noch schwerlich als Ausnahmen bezeichnen konnte.

Beispiele dafür gibt es genug ( – und die sind ja laut Brenner alles in der Biologie!). Nehmen wir die „Springenden Gene“. So etwas durfte es nach den damaligen „Regeln“ gar nicht geben, da man dachte, die DNA könne die Erbinformation nur dann stabil und zuverlässig weitergeben, wenn sie absolut unveränderbar sei. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt.

Ähnliches Beispiel: horizontaler Gentransfer. Lange galt dieser schon als Ausnahme kaum denkbar, als Regel natürlich sowieso. Heute jedoch findet man nahezu ausnahmslos in jedem sequenzierten Genom die „Fußstapfen“ früherer horizontaler Gentransfer-Ereignisse.

Eines der jüngsten Beispiele für eine solche „Ausnahme von der Regel“ publizierten gerade Forscher aus Berlin, Oldenburg und Oxford (Nat. Commun. 8: 455): Eine einzige Zelle des Riesen-Süßwasserbakteriums Achromatium oxaliferum beherbergt nicht ein Genom, auch keine zwei – nein, um die dreihundert Genome. Und diese sind keineswegs immer gleiche Kopien, sondern extrem verschieden. Bisweilen variierten die Sequenzen der Kopien desselben Protein-kodierenden Gens aus einer einzelnen Zelle (!) genauso stark wie in der gesamten Achromatium-Population.

Sicher spannend in vielerlei Hinsicht. In unserem Kontext ist jedoch vor allem interessant, dass man bis vor kurzem Bakterien mit mehreren Genom-Kopien für Ausnahmen hielt. Inzwischen „begegnet“ man jedoch immer wieder solchen polyploiden Einzellern. Ob es unter diesen wiederum eher die Ausnahme ist, dass deren multiple Genom-Kopien nicht identisch, sondern à la Achromatium verschieden sind? Von einer Regel, wie viele Genome eine Bakterienzelle enthält und wie diese jeweils beschaffen sind, wollen wir ja schon gar nicht mehr sprechen.



Letzte Änderungen: 11.10.2017