Editorial

Unerwarteter Sex

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

Wie ist es, wenn man am Beginn einer neuen Reihe von Experimenten steht? In dem sicherlich weitaus gängigsten Szenario steht am Anfang das Interesse an einem ganz bestimmten Phänomen. Aufgrund dessen studiert man erst einmal alles, was darüber bekannt ist – und bekommt dabei womöglich bestätigt, dass es tatsächlich noch äußerst spannende Lücken in dem gesamten „Gebilde“ gibt. Eigentlich hatte man das ja von Anfang an geahnt – und ehrlich gesagt, sich auch genau deswegen für das Thema interessiert...

Damit sollte der Forschergeist endgültig geweckt sein. Im nächsten Schritt werden daher aus der klaren Kenntnis dieser Lücken eine oder mehrere Fragestellungen formuliert, aus denen am Ende gar eine Art Hypothese erwächst. Idealerweise besticht diese jedoch nicht nur durch Plausibilität, sondern auch durch einfache und klare Testbarkeit. Denn nur dann kann unser Forscher umgehend eine stringente experimentelle Strategie entwickeln, um die Hypothese peu à peu mit handfesten Daten zu untermauern. Und erst damit ist er endgültig bei einem konkreten – und beantragbaren! – Projekt angekommen.

(Zum Thema „Projekt“ siehe aber auch „Inkubiert“ auf Seite 8.)

Tja, und dann gehts los: Die ersten Ex­pe­rimente werden gemacht, die Daten sehen vielversprechend aus, dann weitere Versuche, deren Daten wieder „passen“, irgendwann dazwischen auch mal ein reines Kontrollexperiment – und plötzlich bekommt man ein völlig unerwartetes Ergebnis. Eines, das rein gar nichts zu tun hat mit dem ach so klar umrissenen Projekt. Vielmehr aber eines, das viel spannender ist als das eigentlich anvisierte (und beantragte) Projekt – und zwar deswegen, weil es auf einen Schlag das Tor zu einem völlig neuen Phänomen aufstößt...

Beispiele dafür gibt es genug. Dass Alexander Fleming kein Antibiotika-Projekt verfolgte, als er Penicillin entdeckte, ist Allgemeinwissen. Ebenso fahndete etwa Alec Jeffreys nicht nach genetischen Fingerabdrücken, als er sie fand. Oder erforschte Wilhelm Röntgen eigentlich die Kathodenstrahlung, als er die nach ihm benannten Strahlen nur wegen eines zufällig auf dem Labortisch liegenden, chemisch behandelten Papiers entdeckte.

So viele große und kleine Entdeckungen wurden in den Naturwissenschaften eher nach dieser Art „Prinzip Zufall“ gemacht, dass es wohl kaum als seltene Ausnahme gelten kann. Und dass das kein reines Phänomen längst vergangener Forschungsgeschichte ist, sondern beileibe auch heute noch mannigfach passiert, belegt wunderschön das folgende „frische“ Beispiel:

US-Zellbiologen aus Berkeley und Harvard untersuchten, ob – und wenn ja, welche – bakteriellen Signalfaktoren den Choanoflagellaten Salpingoeca rosetta zur Zellteilung animieren. Was sie aber völlig unerwartet bekamen, als sie den Kragengeißeltierchen das Meeresbakterium Vibrio fischeri mit in die Kultur mischten, war... Sex!

Von S. rosetta war bis dahin überhaupt keine sexuelle Fortpflanzung bekannt – sondern eben nur reine, asexuelle Zellteilung. Plötzlich aber schwärmten die Choanos Köpfchen an Köpfchen zu Gruppen zusammen – und duplizierten und rekombinierten kräftig ihre DNA, um sich dann in genetisch unterschiedliche Nachkommen aufzuteilen. Als entsprechendes „Flagellaten-Aphrodisiakum“ identifizierte das US-Team schließlich eine von Vibrio sezernierte Chondroitinase, die den Geißeltierchen offenbar die Zellwand aufweicht – und die sie sinnigerweise EroS tauften (Cell 170: 1175-83).

So öffnete sich mit diesen Erkenntnissen plötzlich ein völlig neues Feld: Die Regulation sexueller Reproduktion von Eukaryoten durch Bakterien. Und dies nur, weil die Autoren Vibrio lediglich für reine Kontrollversuche vorgesehen hatten – wie sie später anmerkten.

Unverhofft kommt offenbar tatsächlich oft in der Forschung. Und immer jenseits von Projekten.



Letzte Änderungen: 03.11.2017