Editorial

Standardprobleme

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

Warum haben wir die Vielfalt der kleinen, regulatorischen RNAs erst so spät entdeckt? Gewiss gibt es eine Reihe von Gründen dafür. Einen gehörigen Teil Mitschuld tragen aber sicherlich ihre „großen Vettern“ ­mRNA, ­tRNA,­ rRNA und Co. Das heißt natürlich: Nicht die Moleküle selbst sind mitschuldig, als vielmehr die Forscher, die sich damals mit ihnen beschäftigten. Und auch denen kann man selbstverständlich keine Absicht unterstellen. „Schuld“ ist also vielleicht das falsche Wort...

Wie auch immer – was jedenfalls damals passierte, war folgendes: Man entwickelte, optimierte und standardisierte die RNA-Gelelektrophorese derart, dass man diese großen RNAs möglichst fein auftrennen konnte. Doch was bedeutete dies für die vielen bis dato unentdeckten kleinen RNAs? Sicherlich trieben sie immer wieder zusammen mit den großen RNAs im gleichen Extrakt umher. Aufs Standardgel aufgetragen schwammen sie jedoch sofort vor der Lauffront vorweg – und oft genug am anderen Ende des Gels vom Forscher unbemerkt wieder heraus. Oder Letzterer stoppte das Gel tatsächlich vorher – und interpretierte die Signale der kleinen RNAs „ganz unten“ lediglich als unwichtige Bruch- oder Schnittstücke der ach so empfindlichen großen RNAs.

Das Problem war also die Standardmethode. Zu dieser wird eine Methode immer dann, wenn man sie stets für das gleiche Problem oder den gleichen Zweck in allen möglichen Zusammenhängen einsetzen kann – wie eben RNA-Extrakte aus unterschiedlichster Herkunft auftrennen und analysieren. So gesehen ist eine verlässliche Standardmethode also eigentlich was Schönes. Doch aus unserem RNA-Beispiel wird ebenso klar: Immer kann es spezielle „Randgruppen“ geben, zu denen die Methode eben doch nicht passt – und die einem deswegen damit stets durch die Lappen gehen.

Das ist vor den kleinen RNAs nach dem gleichen Muster schon öfter anderswo passiert – und passiert weiterhin bis heute. Jüngstes Beispiel ist eine große Gruppe von Viren, die weltweit im Oberflächenwasser unserer Meere massenweise jede Menge verschiedene Bakterien killen – und trotzdem bis vor kurzem völlig unentdeckt blieben. Verständlich, dass deren Entdecker diese schließlich Autolykiviridae tauften – nach dem Meisterdieb Autolykos aus der griechischen Mythologie, der aufgrund seiner Gerissenheit nur schwer zu fangen war (Nature 554: 118-22).

Klar, die Autolykiviridae haben einige ungewöhnliche Eigenschaften: Im Vergleich zu den meisten anderen Bakterien-mordenden, doppelsträngigen DNA-Viren haben sie keinen Schwanz sowie ein deutlich kleineres Genom mit großteils ziemlich eigenen Genen. Doch warum sie so lange flüchtig blieben liegt eher daran, dass sie gleich mehrfach unter den Standardmethoden der Virusjäger hindurchtauchen konnten. So gaben die Autolykiviridae etwa ihre DNA nur frei, wenn das Extraktionsmedium unüblicherweise Protease enthielt, oder sie schwammen wegen ihrer Kapsid-Lipiddoppelschicht in Dichtegradienten ganz woanders als dort, wo Viren „mit Schwanz“ standardmäßig isoliert werden. Weiterhin vertrugen sie die Chloroform-Behandlung nicht gut, mit der Viruspräparationen standardmäßig von kontaminierenden Bakterien befreit werden – ihre eigene Infektivität war damit für anschließende Standard-Lysetests dahin. Und überhaupt brauchten sie in solchen Lysetests viel länger als ihre Schwanz-bewehrten Verwandten, um sichtbare Löcher im Bakterienrasen zu erzeugen – und damit auch länger, als Virus-Forscher standardmäßig dafür inkubieren.

Wofür die Autoren der Studie direkt im Paper plädieren, dürfte damit klar sein: Änderung der Standardmethoden! Denn wer weiß, welche Virenvielfalt bislang noch unter deren Radar hindurchfliegen konnte.



Letzte Änderungen: 01.03.2018