Editorial

Geräderte Hypothesen

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

Am Anfang steht die Beobachtung, heißt es. Denn nur aus Beobachtungen lässt sich abschätzen, ob dahinter wissenschaftliche Fragen stecken, die genug realisierbares Erkenntnispotenzial versprechen, um gewinnbringend weiterverfolgt zu werden.

Doch manchmal trägt auch eine Nicht-Beobachtung dazu bei. Oder besser gesagt: Die Beobachtung, dass etwas fehlt.

Nehmen wir etwa die Ordnung Bdelloida aus dem Stamm der Rädertierchen (Rotifera). Was bei den Vertretern dieser weltweit vorkommenden und mikroskopisch kleinen Süßwasser-Tierchen schlichtweg fehlt, sind Männer. Keiner hat bisher welche beobachtet.

Die Bdelloida-Damen pflanzen sich daher rein parthenogenetisch fort – und produzieren auf diese Weise ausschließlich genetisch identische Töchter. Womit die Frage direkt auf der Hand liegt: Ohne Sex, ohne Meiose und ohne homologe Rekombination – wie konnten die Rädertierchen da Millionen Jahre Evolution überleben? Und sich dabei noch in etwa dreihundert genetisch klar verschiedene Arten aufspalten?

Eine interessante und lohnenswerte Frage, kein Zweifel. Jetzt braucht es eine Hypothese. Dazu rekrutierten die Bdelloi­do­logen zunächst eine weitere Beobachtung – nämlich diejenige, dass die Mehrheit ihrer Lieblingstierchen sehr lange Zeit komplett ausgetrocknet als Dauerstadien überstehen kann. Dies, Anhydrobiose genannt, kennt man auch von anderen Tierstämmen. Und von daher weiß man, dass deren DNA den Zyklus aus De- und Rehydrieren nicht ganz schadlos übersteht. Mit der Konsequenz, dass die Tierchen nach Erwachen aus dem Trockenheitsschlaf ihre DNA erstmal von Grund auf reparieren müssen.

Womit sich anschließend die folgende, durchaus plausible Hypothese aufstellen ließ: Die Reparaturmaschinerie könnte in diesem Zusammenhang doch nicht nur schädliche „Trocknungs-Mutationen“ wieder ausmerzen, sondern böte zugleich eine alternative Möglichkeit zur Rekombination des genetischen Materials. Ganz ohne Sex.

Dummerweise reicht plausibel alleine nicht in der Forschung. Hypothesen müssen vor allem testbar sein – sonst taugen sie nur das Papier, auf dem sie notiert werden.

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Indes, auch dieses Kriterium war erfüllt. Zum einen gibt es auch Trockenheits-intolerante Bdelloida-Arten ohne reparaturpflichtige Dauerstadien; und zum anderen steht die Methodik zur vergleichenden Analyse mehrerer verwandter Genome. Forscher vom Londoner Imperial College verglichen also die Genome der zwei Trocknungs-toleranten Vertreter Adineta ricciae und Adineta vaga mit denjenigen der zwei Trocknungs-intoleranten Ordnungs-Vettern Rotaria macrura und Rotaria magnacalcarata. Die Vorhersage aus der obigen Hypothese: Deutlich weniger genetische Variabilität in den trockenempfindlichen Arten als in den Dauerstadien-Bildnern. Doch genau das kam nicht heraus, es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen den Arten (PLoS Biol. 16(4): e2004830).

Die Reparatur-Hypothese ist damit gestorben – eine neue muss also her. (Soviel nebenbei zum Wert negativer Ergebnisse.) Und wieder hilft eine Beobachtung: Die neue Studie enthüllte nämlich auch, dass die Genome der Bdelloida-Arten allesamt in bisher unbekanntem Maße voller Gene stecken, die über horizontalen Gentransfer eingewandert sind – unabhängig vom jeweiligen Trockenheits-Management. Durchaus plausibel, dass dies der Motor für die genetische Variabilität der bdelloiden Rädertierchen sein könnte. Doch wie kann man das testen? Und welches sind die Ursachen und Mechanismen für die hohen Gentransfer-Raten? Mit den Trockenstadien hat es ja offenbar nichts zu tun.

Am Ende also auch ein schönes Beispiel, wie in der Wissenschaft eine Antwort die Tür zu mehreren neuen Fragen öffnen kann.



Letzte Änderungen: 05.06.2018