Editorial

Alles nur Zufall

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

Biologen stecken in einem Dilemma. Schicksalshaft Vorherbestimmtes hat keinen Platz in ihrer Welt. Aber mit dem Zufall tun sie sich ebenfalls schwer. Allzu stark sind sie geprägt von dem naturwissenschaftlichen Leitmotiv schlechthin, dass alles, was im Universum geschieht, nach den Spielregeln unveränderlicher Naturgesetze abläuft.

Dieses Leitmotiv kommt natürlich nicht von ungefähr – und wurde in seiner umfassenden Gültigkeit auch immer wieder eindrucksvoll bestätigt. Zugleich hat es aber den reinen Zufall als Gestaltungsprinzip weit in den Schatten gedrängt. Zu sehr widersprach das „Prinzip Zufall“ dem naturwissenschaftlichen Duktus, hinter allem und jedem kausale Ursachen oder wenigstens regulierende Ordnungsprinzipien zu postulieren.

Sicher, zuletzt bekam der Zufall zunehmend einen Fuß in die Tür der Naturwissenschaften, beispielsweise in der Quantenphysik oder der Chaostheorie. Aber gerade die Biologie müsste ihn doch stetig und schon lange prominent auf der Rechnung haben. Denn worauf basiert letztlich der gesamte evolutionäre Film des Lebens auf Erden? Eben – auf Zufall und Selektion!

Schon die Sequenzen der allerersten urzeitlichen DNA- oder RNA-Stränge mutierten und veränderten sich während ihrer Vermehrung rein nach dem Zufallsprinzip. Und so geht es bis heute! Auch wenn die Sequenzvielfalt in den Genomen inzwischen gewaltig zugelegt hat. Allein die unmittelbar wirkende Selektion sorgt stetig dafür, dass sich immer nur wenige Varianten aus dem „zufallsverteilten“ Sequenz-Wirrwarr über längere Zeiträume anreichern. Und diese strenge Auslese suggeriert im Rückblick so etwas wie ein vorab regulierendes Steuerprinzip.

Erst kürzlich „begegneten“ Münsteraner Bioinformatiker um Erich Bornberg-Bauer diesem Zufallsmechanismus wieder in einer Studie zur Neu-Entstehung von Säugetier-Genen „aus dem Nichts“. Vorherrschende Meinung war bis dato, dass in der Linie der Säugetiere nur sehr wenige Gene irgendwo aus dem weiten Rauschen funktionsloser Sequenzen hervormutieren. Was ja auch plausibel erscheint. Schließlich verfügen gerade die Säugetiere mittlerweile über genug funktionierende „Sequenzvorlagen“, die die Selektion einst als „dem Tier von Nutzen“ durchgewunken und seitdem bewahrt hat. Genug „Rohmaterial“ also, um durch simples Kopieren dieser lange bewährten Sequenzen samt nachfolgendem Optimieren oder gar Umwidmen der Funktionen weiter im „Evolutionsrennen“ zu bleiben. Dies natürlich wiederum via zufälliger Mutation und fixierender Selektion.

Der Bedarf an „Spontan-Genen“ aus dem Nichts scheint demnach äußerst gering. Und dennoch erschaffen die zufälligen „Mutations-Einschläge“ im Genom sie offenbar in weit größerer Zahl als bisher vermutet. Jedenfalls verkündeten die Münsteraner am Ende ihrer Analyse der Genome von Mensch, Maus, Ratte, Kängururatte und Opossum: In den nicht-kodierenden Regionen von Säugetier-Genomen entstehen permanent und in hoher Rate neue Leseraster für neue Proteine (Nat. Ecol. Evol. 2(10):1626-32). Da die Zufallsprozesse der Evolution aber auch vor diesen keine Unterschiede machen, wird die große Mehrheit von ihnen mit den nächsten Mutations-Treffern sehr schnell wieder aus der Population herausselektiert. Nur die allerwenigsten dieser „Gen-Rookies“ liefern dem Organismus tatsächlich umgehend einen derart vorteilhaften Nutzen, dass sie dem Standgericht der Selektion entkommen und sich am Ende als echte De-Novo-Gene in der gesamten Population ausbreiten.

In der Evolution herrscht also klar der Zufall als verursachendes Prinzip. Allerdings ist er hier nicht gleichbedeutend mit dem Fehlen eines Ordnungsprinzips. Nur schaut die Selektion dem Zufallstreiben erstmal wachsam zu – um dann sogleich mit umso stärker ordnender Hand durchzugreifen.



Letzte Änderungen: 05.11.2018