Isotope coded Affinity Tags

von Kirstin Meier (Laborjournal-Ausgabe 09, 2001)


Editorial
Das Merkwürdige an Metaphern ist ihre Beständigkeit. Das Bild vom Erbgut als "Buch des Lebens" macht da keine Ausnahme: Seit die Genforschung mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, hat sich dieser Begriff eingeprägt. Und damit auch die Idee, Wissenschaftler müssten die immense Datenmenge nur einfach übersetzen um den Inhalt des Buches zu verstehen. Der Abschied von dieser Vorstellung fällt schwer. Zu schön war der Gedanke, Krankheiten anhand von Genveränderungen erkennen und heilen zu können.

Noch hat sich die Aufregung um das menschliche Erbgut und das Potenzial der Genomik als Quelle für moderne medizinische Verfahren nicht gelegt, da beschreitet die Forschung bereits neue Wege. Über drei Jahrzehnte lang konzentrierten sich die Biowissenschaften auf einzelne Moleküle, bis den Wissenschaftlern dämmerte, dass Detailversessenheit die Sicht auf das Ganze verstellen kann. Um die Unterschiede gesunder und pathologischer Veränderungen auf zellulärer Ebene zu verstehen, muss das komplexe Zusammenspiel zwischen DNA, mRNA und Proteinen, also das gesamte biologische System untersucht werden.


Editorial

Irreführende mRNA-Mengen


Veränderte Konzepte verlangen meist auch nach neuen, umwälzenden methodischen Ansätzen. Ein solcher ist die Isotop coded Affinity Tag-Technik kurz ICAT. Rudolf Aebersold und seine Mitarbeiter vom Systems Biology Institut in Seattle, entwickelten diesen Hoffnungträger der Proteomik im Jahre 1999, um damit kleinste Proteinmengen zweier Zellen direkt vergleichen zu können (Nature Biotechnology, Vol. 17, 994-999).

Unter dem Begriff Proteomik firmieren verschiedene Verfahren, die letztlich alle das gleiche wollen: Sämtliche Proteine, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zelle vorhanden sind, erfassen und analysieren. Erklärtes Ziel ist es, die Befunde aus Proteom- und Genomunter-suchungen zusammenzuführen. Ergänzt durch bereits vorhandene strukturelle und funktionelle Daten könnten Biologen dadurch umfassende Einblicke in die molekularen Veränderungen pathologischer Zellen erlangen.

Wie aber tausende und abertausende Proteine gleichzeitig untersuchen? Oft analysierten Molekularbiologen hierzu die mRNA-Menge. Dabei ist schon lange bekannt, dass diese keinen direkten Rückschluss auf die Proteinmenge zulässt. Zum Einen werden mRNAs gespleißt und erzeugen so auch Proteine mit verschiedenen Funktionen. Zum Anderen besteht aufgrund unterschiedlicher Halbwertszeiten und Translationshäufigkeiten der mRNA kein linearer Zusammenhang zwischen ihrem Vorkommen und der Anzahl der vorhandenen Proteine.


Arbeitspferd mit Schwächen

Die "klassische Proteomik" konzentriert sich daher auf den direkten Protein-Nachweis. Das bedeutet: Trennen der Proteine durch zweidimensionale Gelelektrophorese und Charakterisieren der Proteinspots im Massenspektrometer. Resultieren - etwa aus dem Vergleich von gesunden Zellen mit Tumorzellen - unterschiedlich starke Spots, können diese mit Hilfe der Massenspektroskopie identifiziert werden. Diese Standard-Methode der Proteomik ist jedoch nicht nur zeitintensiv, sondern auch ungenau. Durch unterschiedliche Anfärbung kann der Eindruck entstehen, eines der Proteine werde stärker exprimiert. Zudem entgehen Proteine, die nur in geringen Mengen vorkommen der Färbung. Oft haben aber ausgerechnet diese Proteine wichtige regulatorische Funktionen. Darüber hinaus stößt die zweidimensionale Gelelektrophorese bei besonders großen oder kleinen, sehr basischen oder sauren Proteinen sowie bei Membranproteinen an ihre Grenzen.

Diese Tücken der klassischen Proteomik umgeht ICAT elegant. Die Proteine von Referenzzellen (I) und beispielsweise Tumorzellen (II) werden extrahiert und reduziert, so dass freie Thiolgruppen an der Aminosäure Cystein entstehen, die nahezu alle Proteine enthalten. Zur Probe 1 wird das ICAT-Reagenz I gegeben. Es besteht aus einer Thiolreaktiven Gruppe, die über einen Spacer mit einem Biotin-Molekül verbunden ist. Zur Probe II wird die ICAT-Reagenz II gegeben. ICAT II unterscheidet sich von ICAT I nur dadurch, dass der Spacer mit schweren Wasserstoff-Isotopen (Deuterium) markiert ist. Die ICAT-Reagenzien binden kovalent an die freien Thiole und markieren so die Proteine. Die Proteinproben I und II werden nun gemischt und durch Trypsinverdau in Peptide zerlegt. Das Biotin ermöglicht die chromatographische Reinigung der ICAT-markierten Peptide an Avidin-Säulen, die Komplexität der Mischung wird so verringert.

Die gereinigten, markierten Peptide werden nun im Massenspektrometer vermessen. Dazu werden sie ionisiert, von einer Elektrode beschleunigt und durch ein Vakuum geschleudert. Die Fluggeschwindigkeit der Peptide ist proportional zu ihrer Masse. In einem Diagramm werden die Flugzeiten und somit die Peptidmassen aufgezeichnet. Peptide, die mit dem schweren Reagenz II markiert waren, haben im Vergleich zu den mit Reagenz I markierten eine definiert höhere Masse, fliegen langsamer und werden daher als leicht versetzte Peaks aufgezeichnet. Ein Vergleich der Intensitäten der zusammengehörenden Signale erlaubt eine Aussage darüber, ob die zugehörigen Proteine der Probe I und II unterschiedlich stark exprimiert wurden.

ICAT bietet damit die Möglichkeit, vergleichende Momentaufnahmen von Proteinen zu machen, die in sehr geringen Mengen in den Zellen vorhanden sind und herkömmlichen Verfahren bisher entkamen. Ein kleiner Fortschritt also auf dem Weg, das komplexe Zusammenspiel von Genom und Proteom, die graduellen Unterschiede von gesunden und kranken Zellen zu verstehen. Spätestens nach ICAT ist aber gewiss: Das Bild von der DNA als Buch, das lediglich übersetzt werden muss, ist längst überholt.


Letzte Änderungen: 20.10.2004