Editorial

Kryptospezies

von Petra Stöcker (Laborjournal-Ausgabe 1/2, 2008)


Kryptospezies?


... sind eigenartig

Um ein bisschen Ordnung in all das irdische Gewusel zu bringen, begann man im 17. Jahrhundert mit der Kategorisierung der Lebewesen. Bei der Systematisierung der Tier- und Pflanzenwelt hat sich neben Caspar Bauhin, John Ray und Jospeh Pitton de Tournefort besonders Carl von Linné hervorgetan. Für seine systematische Gliederung benutzte er die fünf Kategorien Reich, Klasse, Ordnung, Gattung und Art.

Später hinzugefügte Stämme und Familien machten die ganze Angelegenheit zwar ordentlich, jedoch nicht unbedingt eindeutiger. Schon allein eine allgemeingültige Definition des Begriffs Art oder Spezies zu finden, ist bis heute noch nicht eindeutig gelungen.


Artkonzepte

Sehr pragmatisch behandelte der Evolutionstheoretiker Ernst Mayr die Frage nach den Kriterien der Spezies-Einteilung, wofür er nur zwei Konzepte gelten lässt: Zum einen das typologische Artkonzept, nach dem Arten Gruppen von Organismen sind, die sich anhand von morphologischen Merkmalen (morphologisches Artkonzept) oder anhand ihres Verhaltens (ethnologisches Artkonzept) voneinander unterscheiden lassen, und zum anderen das biologische Artkonzept, das Arten als Gemeinschaften von Individuen bezeichnet, die potentiell fortpflanzungsfähige Nachkommen miteinander zeugen können.

Daraus folgt: Sichtbare Unterschiede oder die Unfähigkeit, sich miteinander fortzupflanzen, sind eindeutige Ausschlusskriterien für die Zugehörigkeit zu einer Art. Letzteres ausfindig zu machen ist mit viel Aufwand und vielen Fehlermöglichkeiten verbunden. Und morphologische Gemeinsamkeiten allein können über genetische Unterschiede hinwegtäuschen.

Als so genannte "Kryptospezies" (cryptic species) bezeichnet man morphologisch ähnliche Populationen von Lebewesen, denen eine geschlechtliche Fortpflanzung mit anderen, bisher zur gleichen Art gerechneten Individuen nicht möglich ist. Schon bei einem der liebstem Forschungstiere der Biologen, Drosophila, benannte H. Winge im Jahre 1965 sechs verschiedene Arten der Drosophila willistonii als kryptisch.


Genome bringen's an den Tag

Modernes Rüstzeug wie PCR und direkte DNA-Sequenzierung machen es den Evolutionsbiologen in den letzten Jahren immer einfacher, hinter die Kulissen zu blicken. Damit brachten jüngst viele populations- und phylogenetische Studien vermehrt solche Kryptospezies zu Tage.

Immer häufiger tauchten – meist als "Nebenprodukt" des eigentlichen Forschungsvorhabens – innerhalb einer Art Vertreter mit unterschiedlichem Erbgut auf, die sich äußerlich jedoch sehr ähnlich waren. Neue Fragen ergaben sich: Sind Kryptospezies ein Phänomen der jüngeren Evolutionsgeschichte? Womöglich als Vorstufe zur folgenden morphologischen Arten-Differenzierung? Sind sie in extremen Landstrichen wie der Arktis oder in tropischen Gefilden häufiger anzutreffen?

Erste Antworten lieferte nun die Arbeit von Markus Pfenninger und Klaus Schwenk von der Abteilung für Ökologie und Evolution der Universität Frankfurt (BMC Evol. Biol. 2007, 7; 121). Zur Klärung bedienten sie sich einer publikationsbasierten Metaanalyse auf Grundlage der Daten des "Zoological Records" aus den Jahren 1978 bis 2006. Diese Kerndatenbank der Zoologie enthält insgesamt mehr als drei Millionen Einträge für Zeitschriftenaufsätze, Bücher, Tagungsberichte und elektronische Quellen.

Darin finden sich Nachweise über zoologische Literatur unter Berücksichtigung von Biochemie, Verhaltensforschung, Ökologie, Evolution und Genetik. Diesen Datenschatz durchforsteten die Frankfurter systematisch nach der Anzahl der wissenschaftlichen Artikel über kryptische Arten – sogenannte cryptic species reports (CSR) – in verschiedenen Tiergruppen und Regionen der Erde. Aus knapp 780.000 Studien extrahierten sie so etwa 2.200 CSRs, deren Daten sie logarithmisch transformiert mittels Regressions-Analysen im Hinblick auf die Verteilung kryptischer Arten in Abhängigkeit verschiedener geographischer Regionen sowie unterschiedlicher Taxa beschrieben.

In ihrem mathematischen Modell berücksichtigten sie, dass die verschiedenen Tiergruppen und die verschiedenen geografischen Zonen unterschiedlich gut untersucht sind, um die Daten vergleichbar zu machen. Heraus kam etwas, was die Forscher selbst erstaunte: In jeder der untersuchten Tierarten und geografischen Regionen ist der Anteil der kryptischen Arten proportional zur Anzahl der beschriebenen Arten.

Schon Einstein wusste, dass alles relativ ist, Markus Pfenninger und Klaus Schwenk bestätigten dies nun auch für den Anteil kryptischer Spezies unter den beschriebenen Vielzellern. Genaue Zahlen sind nach wie vor unbekannt, jedoch gibt es zumindest relativ betrachtet beispielsweise nicht mehr kryptische Säugetiere als Spinnenarten.


Strichcode des Lebens

Interessant einerseits, wenn man die jüngsten Sequenzierungsprojekte wie etwa das internationale "Barcode of Life" (iBOL)-Projekt verfolgt. Dabei werden mit Hilfe von Mustern der Sequenzdivergenz in kurzen, standardisierten Genregionen (DNA-Barcodes) bekannte Arten genetisch definiert und auch neue Arten entdeckt. Ergebnisse daraus könnten die Zahl der Tier- und Pflanzenarten auf unserem Planeten erstmals zuverlässig abschätzen lassen. Andererseits kann durch die Identität der Kryptospezies gezielter Artenschutz betrieben werden, da bislang vom Aussterben bedrohte Arten nicht unter Naturschutz gestellt werden, weil sie einer anderen, weit verbreiteten Art sehr ähnlich sehen.





Letzte Änderungen: 08.02.2008