Grenzkonflikte

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Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

(06.04.2020) Wo fängt Leben an? Und was lebt gerade noch nicht? Lange war die Antwort klar: Was eine membranumhüllte Zelle bildet, die sich auch noch selbstständig replizieren sowie chemische Energie aus molekularen Substraten erzeugen kann – das lebt! Alles, was das nicht alleine hinkriegt, lebt nicht!

Für Biologen folgt daraus: Viren leben nicht! Schließlich brauchen sie zwingend die Zell-Maschinerie des jeweiligen Wirts zu ihrer Vermehrung. Logisch daher, dass sie ihnen deswegen auch keinen Platz neben den Eukaryoten, Eubakterien und Archäen auf dem sogenannten „Baum des Lebens“ einräumen.

Nichtsdestotrotz wird es immer schwieriger, die Grenze zwischen lebenden Zellen und den alles andere als toten Viren aufrechtzuerhalten.

Etwa 17 Jahre ist es her, dass diesbezüglich ernsthafte „Grenzkonflikte“ losgingen. Bis dahin galten Viren rein operational als Partikel, die klein genug waren, um einen 0,2-µm-Filter passieren zu können. Im Jahr 2003 jedoch beschrieben französische Mikrobiologen das sogenannte Mimivirus mit einer Länge von 0,4 µm, dessen 1,2 Megabasenpaare (MBp) großes Genom zudem knapp tausend Gene beherbergt. Zum Vergleich: Das Genom des bakteriellen Krankheitserregers Mycoplasma genitalium ist 580 Kilobasen lang und beinhaltet 470 Gene.

Editorial

Doch das war erst der Anfang. In den Folgejahren purzelten Dutzende weiterer Riesenviren in die wissenschaftliche Literatur. Hier nur eine Auswahl:

  • Megavirus chilensis mit 1,2-MBp-Genom und knapp 1.200 Genen.
  • Pandoravirus salinus, 1 µm groß mit über 2,5 MBp langem Genom einschließlich 2.556 Genen. Nochmals zum Vergleich: Das Genom eines der kleinsten eukaryotischen (!) Parasiten, Encephalitozoon intestinalis, ist nur 2,3 Mbp lang.
  • Drei Vertreter von Klosneuviren. Dessen größter, KNV1, besitzt ein Genom von 1,6 MBp mit 1.550 Genen, wovon viele für Komponenten der Proteintranslations-Maschinerie codieren – so auch für Aminoacyl-tRNA-Synthetasen, die dem Virus potenziell für alle zwanzig Aminosäuren reichen würden (Science 356: 82-85).
  • Ähnlich gut ausgestattet sind zwei Vertreter der Tupanviren, die mit Schwanz 2,3 µm lang werden (Nat. Commun. 9: 749). Deren Genom umfasst rund 1,5 MBp und enthält 1.276 beziehungsweise 1.425 Gene. Und wiederum sind Gene für nahezu die gesamte Proteinbiosynthese-Maschinerie dabei. Wie bei KNV1 fehlt eigentlich nur noch das Ribosom.
  • Und als wäre das nicht genug, präsentierten US-Forscher gerade auch noch ein ganze Batterie von Riesen-Bakteriophagen (Nature 578: 425-31). Das Genom des größten Exemplars war 735 Kilobasen lang. Die größte Überraschung allerdings: Die meisten Riesenphagen besaßen Gene für CRISPR-Cas-Systeme, darunter auch bisher unbekannte Cas-Gene.

Klar, auch diese üppig ausgestatteten Partikel bilden keine abgeschlossenen Zellen und können sich nicht selbstständig replizieren. Dennoch scheint die Frage legitim: Wo in der Grauzone zwischen unbelebter Materie und einfachen Mikroorganismen steht eine Struktur, die äußerlich kaum von einem Bakterium zu unterscheiden ist und mehr Protein-codierende Sequenzen in sich trägt als manch ein anerkannter Vertreter der „echten“ Lebewesen?

Dazu kommt, dass die Pandoraviren aufgrund der Struktur ihrer Gene auch ein anderes Szenario dämmern lassen – nämlich, dass sie sich sekundär aus einer bisher unbekannten Einzeller-Linie zum parasitären Virus zurück reduzierten.

Eine Grenzüberschreitung von der anderen Seite also.

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Letzte Änderungen: 06.04.2020