Gesetzesgrenzen

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

(08.03.2021) Es war in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts, dass die Physik nachhaltig von der Biologie enttäuscht wurde. Bis dahin waren viele Physiker fest davon überzeugt, dass sich hinter „dem Leben“ garantiert neue physikalische Gesetze verbergen würden. Schließlich boten sich ihnen die Organismen als etwas derartig Komplexes dar, dass sie sich unmöglich mit den etablierten, vergleichsweise einfachen Gesetzen der Physik komplett erklären lassen könnten – so meinten sie.

Diese Euphorie wurde durch die Entschlüsselung der DNA-Struktur samt der molekularen Mechanismen von Vererbung und Genexpression jäh gestoppt. Gerade beim zentralen Prozess der genetischen Replikation, wo besagte Physiker am ehesten fundamental Neues erwartet hatten, schauten sie in die Röhre. „Es sind lediglich Wasserstoffbrücken“, fasste damals einer von ihnen enttäuscht zusammen.

Editorial

Die Biologie wird den Physikern sehr wahrscheinlich auch weiterhin keine neuen Gesetze bescheren, selbst wenn einige wenige von ihnen beim Funktionieren unseres Gehirns noch einen kleinen Schimmer Hoffnung haben. Der Rest ihrer Zunft tröstet sich schon lange mit der Tatsache, dass folglich die Gesetze der Physik die Biologie umgekehrt in ihre Schranken weisen.

Dabei reizt die Biologie allerdings so manches dieser Gesetze bis zur äußersten Grenze aus. Das geht etwa los bei der Quantenphysik, deren Gesetze die Kohlenstoffchemie auf perfekte Weise zur Gestaltung allen organischen Lebens ausnutzt. Und setzt sich fort bei der Thermodynamik, deren Regeln Proteine und andere Makromoleküle gerade bei ihren Faltungen bis zum Anschlag in Anspruch nehmen.

Oder anders: Nehmen wir die Aerodynamik und den Hummelflug. Lange war nicht klar, warum die Brummer nicht vom Himmel fallen. Schließlich produzieren Flügel Auftrieb, indem die Luft schneller über ihre Oberseite als unter ihnen hindurchströmt. Als Folge entsteht ein Unterdruck an der Oberseite – und dadurch letztlich ein Sog, der den Körper nach oben zieht. Dieser Auftrieb ist umso größer, je länger die Flügel sind und je schneller die Vorwärtsbewegung des Flugobjekts ist. Und das konnte mit den kleinen Flügeln der fetten, lahmen Hummeln doch eigentlich nicht funktionieren.

Tut es aber doch. Und zwar einerseits, indem die Tiere durch ihren flexiblen Flügelschlag spezielle Luftwirbel erzeugen. Vor allem aber, weil sie beim Rückschlag ihre Flügel zusammenklatschen und die Luft dazwischen herausdrücken. Schleudert die Hummel ihre Flügel für den Vorderschlag wieder auseinander, strömt die Luft umso stärker in die „Unterdruck-Lücke“ und verbessert nochmals die Zirkulation über der Flügeloberfläche. Das Resultat: Auftrieb-Aerodynamik at its best.

Auf ähnlich verblüffende Weise wurde gerade der kleine marine Flohkrebs Dulichiella cf. appendiculata zum Beschleunigungs-Weltrekordler im Rahmen einer wiederholbaren Bewegung gekürt (Curr. Biol. 31(3): PR116-7). Seine Scheren schnappen in einer Zehntausendstelsekunde auf und erzeugen dabei so heftige Wasserstrahlen, dass sich spontan Dampfblasen entwickeln – ein Effekt, den die Physik als Kavitation bezeichnet. Diese Kavitationsblasen wiederum implodieren nach kurzer Zeit mit lautem „Plopp“, wobei Drücke von mehreren Tausend Bar entstehen können – ein Vorgang, der zu den energiereichsten überhaupt auf unserem Planeten gehört.

Warum die Tierchen das machen, wissen die Autoren der betreffenden Studie noch nicht – momentan fragen sie sich eher, wie sie diese Energieausbrüche überhaupt überleben. Und haben nebenbei noch ein weiteres Beispiel geliefert, dass die Physik nun wirklich nicht weiter enttäuscht sein muss von der Biologie. Auch ohne neue Gesetze.

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