Editorial

Vergleichsweisen

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

Es braucht nicht lange, um drei Paper zu finden, in deren Abstracts Sätze stehen wie:

  • „[…] Mini-strokes may be more serious than previously thought […]“
  • „[…] CO2 is a more complex sensory cue for C. elegans than previously thought, both in terms of behavior and neural circuitry […]“
  • […] suggesting that interdomain transfer from prokaryotes into eukaryotes occurs more frequently than previously thought […]“

Was fällt auf? Richtig – dass die Forscher ihre Resultate in Vergleichsform beschreiben. Und diese drei Beispiele sind bei weitem nicht allein: Da enthalten Genome weniger Gene als zuvor gedacht; treten Mutationen viel häufiger auf, als man bis dahin erwartet hatte; entwickeln sich Merkmale evolutionsgeschichtlich schneller, als man angenommen hatte; interagieren Proteine mit mehr Partnern als bisher vermutet; reagieren Regel-Netzwerke viel flexibler als man sich das bislang vorgestellt hatte; und und und...

Schon diese Aufzählung dürfte allemal reichen, um sich zu fragen: Was haben all die vielen Forscher eigentlich vorher gedacht/erwartet/vermutet/angenommen/geschätzt/..., dass sie derart häufig so weit neben dem lagen, was die nächstneueren Daten dann tatsächlich offenbarten?

Klar, liegt einem da sofort der Spruch auf der Zunge, dass die Forscher doch lieber besser nach- statt so viel vor-denken sollten. Aber das trifft es ja nicht wirklich. Natürlich müssen Forscher vorausschauen (und -denken), natürlich müssen sie Daten interpretieren und gewichten, um daraus plausible Szenarien und klare Hypothesen für einen potentiellen künftigen Erkenntnisgewinn zu entwickeln. Und sicher ist dabei ein großer Unsicherheitsfaktor, dass sie für ihre Schätzungen/Erwartungen/Vermutungen/Annahmen/… oftmals auf dünne Datensätze zurückgreifen müssen, die zudem womöglich mit weniger „starken“ Methoden gewonnen wurden.

Komisch ist dabei aber, dass man bei all den Komparativen nahezu ausschließlich den Eindruck vermittelt bekommt, die neuen Ergebnisse seien auf irgendeine Weise besser, als man zuvor erwartet hat. Oder sind das am Ende weitgehend Marketing-Floskeln, um die Ergebnisse so überraschend, spektakulär oder signifikant wie nur irgend möglich aufleuchten zu lassen...?

Editorial

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Wie auch immer, umso stärker fällt es vor diesem Hintergrund auf, wenn die ETH Zürich gleich im zweiten Satz einer Pressemitteilung schreibt: „Dabei zeigte sich: Gewisse molekulare Mechanismen sind nicht so relevant wie bisher gedacht.“ Klar, prinzipiell wieder die Vergleichsform – aber eben nicht in diesem betont positiven „Besser als gedacht“-Sinn.

Worum geht es also in dem angepreisten Paper? Kurzum haben Forscher der ETH Zürich mit anderen Kollegen untersucht, wie die Entwicklung von Blutstammzellen hin zu den verschiedenen Linien ausdifferenzierter Blutzell­typen gesteuert wird. Bis dahin war sich die Fachwelt ziemlich einig, dass diese Linien-Entscheidungen insbesondere durch das Wechselspiel der beiden Transkriptionsfaktoren GATA1 und PU.1 getroffen werden. Stimmt nicht – verkünden jetzt die Autoren. GATA1 und PU.1 spielen zwar mit bei der Differenzierung der Blutstammzellen, aber eher exekutiv – und damit erst deutlich nachdem die Linien-Entscheidung getroffen ist (Nature 535: 299-302).

Eigentlich also ein negatives Ergebnis – von denen es ja generell heißt, dass sie gemessen an ihrer unbestreitbaren Wichtigkeit viel zu selten adäquat veröffentlicht werden. So gesehen darf diese Art „negative“ Vergleichsform gerne öfter in Abstracts auftauchen.



Letzte Änderungen: 12.10.2016