Editorial

Unbekannte Arten

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(09.02.2020) Darwins Schlüsselwerk zur Evolutionstheorie heißt bekanntlich „On the Origin of Species“. Doch wissen wir überhaupt, worüber er da schrieb? Über Evolution via Variation und Selektion, klar. Aber „Arten“? Tatsächlich fällt es uns bis heute schwer zu definieren, was das genau ist – eine Spezies. Und zuletzt ist die Verwirrung darüber eher noch größer geworden..

Eines immerhin war bereits mit Darwin klar geworden: Dass Arten nicht in Stein gemeißelt sind, sondern etwas Dynamisches darstellen. Sie entwickeln sich stetig weiter – und hin und wieder spalten sie sich dabei zu neuen Arten auf. Da beides aber in aller Regel über sehr lange Zeiträume hinweg geschieht, müssten wir folglich stets direkte Zeugen mannigfacher Artentstehungsprozesse sein.

Dass das tatsächlich der Fall ist, zeigt exemplarisch eine aktuelle Studie Münchner Evolutionsbiologen zu den genetischen Grundlagen der Speziation von Raben- und Nebelkrähen (Nat. Ecol. Evol. 3(4): 570-76). Deren Vorfahren wurden vor einigen Hunderttausend Jahren durch Eiszeit-Gletscher in zwei Populationen getrennt, die sich nachfolgend auseinander entwickelten – eben in tiefschwarze Raben- und hellgrau-schwarze Nebelkrähen. Als die Gletscher sich wieder zurückzogen und beide Arten in einer bis zu fünfzig Kilometer breiten Hybridzone entlang der Elbe wieder aufeinandertrafen, war deren Aufspaltung allerdings noch nicht vollständig abgeschlossen.

Doch Vorsicht mit dieser Aussage: Erst einmal gilt sie nur vor dem Hintergrund des klassischen biologischen Artkonzepts. Und dieses ist bei weitem nicht das einzige Konzept, mit dem man einer allgemeinen Definition von Spezies näherkommen will.

Das biologische Artkonzept wurde ursprünglich von Ernst Mayr formuliert und fasst unter einer Art alle Individuen zusammen, die sich natürlicherweise paaren und fortpflanzungsfähige Nachkommen erzeugen können. Demnach wäre die Aufspaltung in Raben- und Nebelkrähen noch nicht abgeschlossen, da sie in der Hybridzone tatsächlich hin und wieder fortpflanzungsfähige „Mischlinge“ zeugen. Diese armen Hybriden haben jedoch nur geringe Chancen, sich selbst fortzupflanzen, da trotz der gelegentlichen „Ausrutscher“ beide Raben-Varianten gleichfarbige Partner klar bevorzugen. Und zumindest die unterschiedliche Färbung ist in beiden Arten inzwischen klar genetisch festgezurrt. Folglich werden die hybriden Früchte der seltenen „Spezies-Seitensprünge“ immer wieder aus den beiden Populationen herausverdünnt.

Dennoch, das biologische Artkonzept würde Raben- und Nebelkrähen streng genommen (noch) nicht als getrennte Arten ansehen. Und das Gleiche gilt generell überall dort, wo Artbildung erst vor evolutionsgeschichtlich kurzer Zeit begonnen hat. Paradebeispiel dafür sind die extrem variantenreichen Buntbarsch-Artenschwärme der afrikanischen Seen – und es gibt noch mehr.

Doch nicht nur, dass Arten evolutionsgeschichtlich niemals „stillstehen“, macht eine allumfassende Speziesdefinition so schwer. Nach dem biologischen Spezieskonzept können beispielsweise Lebewesen, die sich nicht sexuell fortpflanzen, überhaupt keine Arten bilden – und das sind bekanntermaßen viele. Ebenso haben sich Konzepte, die auf jeglicher Art von morphologischer, genetischer, ökologischer oder sonstwelcher „Ähnlichkeit“ beruhen, bisher allenfalls in speziellen theoretischen oder operationalen Zusammenhängen bewährt.

Nicht zuletzt deshalb meinen heute viele Biologen, dass es ein allgemeingültiges Spezieskonzept gar nicht geben kann, da über das ganze Organismenreich hinweg viele verschiedene Mechanismen der Artbildung realisiert sind. Und eigentlich kommen sie auch ganz gut zurecht damit.

Die Organismen sowieso.

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Letzte Änderungen: 09.02.2020