Editorial

Grenzkonflikte

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(08.05.2020) Zuerst dämmerte einigen Forschern, dass man aus der DNA eines Lebewesens womöglich große Teile der Geschichte seiner evolutionären Linie herauslesen kann. Der nächste Schritt war die Erkenntnis, dass man durch vergleichende Analyse von Sequenzabschnitten aus verschiedenen Organismen die Zeitpunkte für gewisse evolutionäre Ereignisse ermitteln kann – etwa die Aufspaltung evolutionärer Linien oder die Besiedelung neuer Lebensräume. „Molekulare Evolution“ nannte man fortan den neuen Forschungszweig, der sich daraus entwickelte.

Dann ging das Sequenzieren von Genen und Genomen immer besser, die Rechenkraft wurde stärker und die Mathematik ausgefuchster – und plötzlich häuften sich die Probleme: Denn immer öfter wollten die so ermittelten molekularen Stammbäume nicht mit den klassisch morphologischen zusammenpassen.

Ein besonders peinliches Beispiel ereignete sich im Jahr 2007. Anhand von Sequenzvergleichen hatten damals einige Computer-Genetiker vorgerechnet, dass die ersten katzenartigen Raubtiere frühestens vor acht Millionen Jahren auf den amerikanischen Kontinent eingewandert sein konnten. „The late Miocene radiation of modern felidae: A genetic assessment“ titelten sie ihr Paper (Science 311: 73-7). Doch kaum war es draußen, lachte sich die Zunft der Paläontologen förmlich schlapp: Schon lange waren entsprechende „amerikanische“ Katzen-Fossilien bekannt und natürlich auch veröffentlicht – und die hatten mindestens 17 Millionen Jahre auf dem Buckel. So gesehen also nicht nur blamabel für die Autoren, sondern auch für die Gutachter.

Ein weiteres Beispiel beschrieben wir kurz vor ein paar Wochen: das „Mollusken-Chaos“ (LJ 1-2/2020: 28). Nun muss man hier zugutehalten, dass Fossilien-Forschung an Weichtieren sicher zu den eher schwierigen Feldern gehört. Aber auch die unzähligen molekularen Daten lieferten bislang vor allem unvereinbare Widersprüche zum Stammbaum der Weichtiere. Erst die Genomsequenz eines frisch entdeckten, winzigen Tiefsee-Molusken brachte ein klein wenig mehr Ordnung in dessen Geäst: Demnach spalteten sich die Vorfahren der heutigen Schnecken doch erst vor etwa 470 Millionen Jahren von der Linie der anderen Weichtieren ab – also etwa 80 Millionen Jahre später als bislang gedacht (Sci. Rep. 10: 101).

Anders herum scheint es bei den Pilzen zu sein, denn die sind offenbar älter als gedacht. Dieser „Fall“ hat neben dieser Alterskorrektur allerdings noch einen weiteren interessanten, nämlich methodischen Aspekt. Auch hier sind Fossilienstudien naturgemäß sehr schwierig, da gerade konservierte einzellige Vertreter nur selten zu finden und zudem noch schwer von anderen Mikroorganismen zu unterscheiden sind. Das bislang älteste bestätigte Pilzfossil konnte jedenfalls „nur“ auf ein Alter von 460 Millionen Jahren datiert werden, während molekulare Studien den Ursprung der Pilze auf vor 750 bis 900 Millionen Jahre datierten.

Diese großzügige Lücke konnte jetzt ein Team belgischer und deutscher Forscher nahezu schließen. Sie entdeckten tatsächlich versteinerte Überreste eines Myzels in Gesteinen, deren Alter zwischen 715 und 810 Millionen Jahren liegt. Anders als bei anderen Versteinerungen studierten sie die organischen Überreste allerdings direkt mit einer ganzen Batterie spektroskopischer und mikroskopischer High-End-Methoden – somit also ohne sie chemisch herauszulösen. Und nachdem sie Chitin und Zellkerne nachweisen konnten, war klar: Das waren tatsächlich Pilze! (Sci. Adv. 6(4): eaax7599)

Was nebenbei wieder einmal zeigt, wie wichtig es ist, gewisse Erkenntnisse mit verschiedenen Methoden zu überprüfen beziehungsweise zu reproduzieren. Nicht nur bei der Rekonstruktion früher evolutionsgeschichtlicher Ereignisse – sondern überhaupt.

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Letzte Änderungen: 08.05.2020