Editorial

Der Zweck heiligt das Basteln

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(01.09.2020) Wenn im Laufe der Evolution neue Eigenschaften entstehen, wirkt es im Rückblick nur selten so, als hätte ein Ingenieur präzise geplant, was er da genau zur Lösung eines bestimmten Problems realisieren will. Vielmehr verglich der französische Molekularbiologe Francois Jacob bereits 1977 in seinem Essay „Evolution and tinkering“ (Science 196: 1161) das prinzipielle Vorgehen der Evolution bei der Entwicklung neuer oder verbesserter Eigenschaften mit einem „Tinkerer“ – was übersetzt „Bastler“ oder“ Tüftler“ meint, oder auch „Kesselflicker“.

Übertragen wir das mal auf die molekulare Ebene. Zwar kommt es durchaus vor, dass im Laufe der Evolution neue Gene mit neuen Funktionen auf dem „Reißbrett“ bisher ungenutzter DNA-Abschnitte des Genoms erblühen. Aber auch wenn dies zu Anbeginn der Entwickung lebender Organismen sicherlich öfter geschah, ist es zumindest in all den komplexen Lebewesen mit ihren großen Genomen inzwischen eher selten der Fall. Schließlich liegen darin mehr als genug ungenutzte, obsolet gewordene oder auch multipel vorhandene Gensequenzen herum, als dass ein rechter Bastler nicht genug Material vorfinden würde, um mit ein paar Handgriffen völlig neue Strukturen und Funktionen zu erschaffen – ganz ohne dies mit irgendwelchen Verlusten oder Schäden an anderer Stelle bezahlen zu müssen.

Und selbst für den Fall, dass doch keine halbwegs passenden „Gen-Rohlinge“ auf Veredelung warten, existiert immer noch die Möglichkeit, sich welche aus dem großen Angebot zu beschaffen, das andere Organismen bereithalten – Stichwort „horizontaler Gentransfer“. Der führt sicherlich immer noch schneller zum Ziel, als das jeweilige „Projekt“ von Null auf mit irgendwelchen zusammengewürfelten Rohsequenzen zu starten.

Doch drehen wir das Ganze mal herum. Würde das nicht bedeuten, dass die molekularen Vorfahren vieler rezenter Gene beziehungsweise der von ihnen codierten Proteine früher ganz andere Funktionen hatten, bis sie an einem bestimmten Punkt der Evolution für einen neuen Zweck rekrutiert wurden? Oder kooptiert wurden, wie die Experten dazu auch sagen?

Genau dafür haben die immer besseren Methoden der vergleichenden Sequenzanalyse zuletzt tatsächlich jede Menge Beispiele enthüllt. So wurden etwa mehrfach unabhängig voneinander ganz unterschiedliche Gene rekrutiert, um sie für die Produktion verschiedener Linsenaugen-Kristalline umzudirigieren – darunter etwa solche für ein Hitzeschockprotein, eine Enolase, eine NADPH-abhängige Reduktase, eine Glutathion-S-Transferase oder eine Aldehyd-Dehydrogenase. Auf ähnlich vielfältige Ursprünge blicken die einzelnen Typen von Frostschutz(Antifreeze)-Proteinen zurück.

Dennoch ist das Feld nicht frei von weiteren Überraschungen. Denn wer hätte gedacht, dass sogar die streng konservierten Histone, welche seit jeher die Struktur sämtlicher eukaryotischen Chromosomen organisieren, einst aus Enzymen kooptiert wurden, die völlig andere Aufgaben erfüllten? Genau das beschreibt jedoch gerade ein kalifornisches Team in Science (369: 59-65): Zumindest die Vorläufer der Histone Nummer 3 und 4 (H3 und H4) bildeten offenbar vor Ewigkeiten – wahrscheinlich in Archaeen – einen Vierer-Komplex, der in den Zellen schädliche Cu2+-Ionen abfing und zu Cu+-Ionen reduzierte, wie sie viele Enzyme als Kofaktor benötigen. Und der besondere Clou: Bis heute hat die Evolution dem H3-H4-Tetramer die Kupferreduktase-Funktion nicht vollends weggebastelt. Vielmehr stieg in Hefezellen der Anteil an Cu2+-Ionen, wenn die Kalifornier deren Histone an kritischen Stellen mutierten. Und isolierte H3-H4-Tetramere konnten tatsächlich auch im Röhrchen immer noch Kupfer reduzieren.

Allerdings kommen solche H3-H4-Tetramere heutzutage in eukaryotischen Zellen praktisch nicht mehr in freier Form vor. Warum auch? Schließlich hat die Evolution die Histone schon vor Urzeiten erfolgreich für eine ganz andere Rolle zurechtgebastelt.

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Letzte Änderungen: 01.09.2020