Editorial

Ist das wirklich schon alles?

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(13.09.2021) Wie oft dachte man in den Biowissenschaften schon, man hätte vollständig aufgedeckt, wie ein bestimmtes Phänomen zustande kommt – nur um dann festzustellen, dass der entschlüsselte Mechanismus das Phänomen zwar mehrheitlich, aber doch nicht für jeden Einzelfall erklärt.

Nehmen wir etwa die Proteinsynthese, oder genauer das Verknüpfen von Aminosäuren zu Peptidketten. Nachdem man gefunden hatte, dass das Ribosom im Rahmen der Translation von mRNA in Protein genau dies tut, schien die Sache klar: Poly-peptidketten synthetisiert die Zelle nur über die komplexe Maschinerie dieser so zahlreich vorhandenen Organellen. Woraus im Umkehrschluss folgte: Ohne Ribosomen keine Peptidketten – und damit auch keine Proteine!

Doch dann entdeckten US-Forscher, dass Bacillus brevis ein zyklisches Zehner-Peptid namens Tyrocidin munter immer weiter produziert, auch wenn sie die Proteinsynthese in den Bakterienzellen längst durch verschiedene Ribosom-blockierende Antibiotika lahmgelegt hatten (PNAS 50(1): 175-81). Und auch die Eliminierung sämtlicher Ribosomen-relevanter RNAs durch RNasen änderte nichts daran: Solange die Bakterien nach dem Eingriff noch weiterleben konnten, produzierten sie Tyrocidin.

Damit war klar: Insbesondere kurze Polypeptide können Zellen prinzipiell auch ohne Ribosomen zusammenbauen. Und tatsächlich spürte man in der Folgezeit eine ganze Reihe nicht-ribosomaler Peptidsynthetasen (NRPS) auf, die Peptid-Antibiotika, -Toxine oder andere „Kurzketter“ fernab aller Ribosomen und mRNA produzieren – die meisten davon in Bakterien und Pilzen, vereinzelt aber auch in Eukaryoten.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie ein Mechanismus noch nicht das ganze Phänomen erklärt, lieferte gerade ein US-Team mit dem gramnegativen Bakterium Geobacter sulfurreducens. Dieses lebt in Oberflächensedimenten und gewinnt Energie aus organischen Stoffen wie etwa Acetat, zu deren Oxidation es wiederum Schwefel oder Metalle als Elektronenakzeptor nutzt.

In letzterem Fall reduziert Geobacter bevorzugt Eisen(III)-Verbindungen, allerdings nimmt es dafür bei Bedarf auch Uran – oder besser gesagt: Uranyl-Ionen! Klar, dass sofort einige spekulierten, man könne die Bakterien womöglich für die Beseitigung von radioaktivem Uran-Abfall rekrutieren. Und tatsächlich zeigte sich bereits vor Jahrzehnten, dass Geobacter radioaktives Uran aus belasteten Proben herausfischen konnte.

Wie genau Geobacter das hinkriegt, konnte besagte US-Gruppe allerdings erst vor zehn Jahren aufklären: Kurz gesagt strecken die Bakterien auf einer Seite ihrer Zelle Proteinfilamente aus, mit denen sie die giftigen Uranyl-Ionen förmlich einfangen. Dabei werden diese im Zuge der Energiegewinnung außerhalb der Zelle zu mineralischem Uran reduziert – sodass man im Anschluss das immobilisierte Schwermetall quasi abschöpfen kann.

Phänomen also vollständig erklärt? Mitnichten. Schon vor zehn Jahren hatten die US-Forscher nachgerechnet – und dabei festgestellt, dass Geobacter rund ein Viertel des Urans eben nicht mit Proteinfilamenten einfängt. Weil die Förderer und deren Gutachter das Problem jedoch für gelöst hielten, bekam das Team erst einmal keine weiteren Mittel für eine Fortsetzung des Projekts. So dauerte es bis vor kurzem, dass ein Student mit Stipendienmitteln Geobacters zweiten „Uranfresser“-Mechanismus aufdeckte: Durch gezielte Veränderung ihrer Lipopolysaccharid-Schicht auf der Zelloberfläche saugen die Bakterien Uranyl-Ionen wie mit einem Schwamm auf und verpacken sie in Vesikel, die sie dann reduziert und immobilisiert wieder ausspucken (Appl. Environ. Microbiol., doi:10.1128/AEM.00964-21).

Auch hier braucht es also zwei verschiedene Mechanismen, um ein Phänomen vollständig zu erklären.

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