Editorial

Buchbesprechung

von Winfried Köppelle




Fredrik Sjöberg:
Der Rosinenkönig

Gebundene Ausgabe: 236 Seiten
Verlag: Galiani, Berlin; Auflage: 1., Auflage (7. Februar 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3869710330
ISBN-13: 978-3869710334
Preis: EUR 18,99

Liebenswerte Spinner

Oftmals sind es die kleinen Dinge, die uns große Freude bereiten. Wie zum Beispiel dieses wunderbare Buch über die schrulligsten und exzentrisch­sten Exemplare der Gattung Homo biologicus.

Eine Mitgliedschaft im elitären Callicera-Club, dessen Angehörige sich regelmäßig im Restaurant des Grand-Hotels von Lund treffen? Beinahe ein Ding der Unmöglichkeit! Es sei denn, Sie erfüllen die wichtigste, ja einzige Bedingung, um in diesen exklusiven Zirkel aufgenommen zu werden: Sie erbeuten ein Exemplar der extrem seltenen Schwebfliegen-Gattung Callicera. Wenn Sie die Spezies bestimmt und Ihren Fang öffentlich verkündet haben („Am besten ist es, sie auf eine Nadel gespießt zu präsentieren.“), ergibt sich der Rest beinahe von allein.

Fortan haben Sie eine Handvoll neuer, gleichgesinnter Freunde. Sie alle eint das Gleiche: Ein exaltiertes Hobby (schwedische Schwebfliegen) und mindestens ein Callicera-Exemplar in der Fliegensammlung. Und die Vereinsaktivitäten? Die beschränken sich im Wesentlichen darauf, „sich gegenseitig zu bewundern“ und im erwähnten Nobel-Restaurant „gut zu essen und teure Weine zu trinken“, während man über die beim Erbeuten der Kerbtiere erlebten Abenteuer fachsimpelt.


Skurrile Sonderlinge

Der schwedische Übersetzer und Autor Fredrik Sjöberg ist Mitglied dieser Entomologen-Kaste. Wie es dazu kam und welch sonderbar-skurrile Widrigkeiten er beim Fang seines ersten Callicera-Exemplars der Art aurata zu überwinden hatte, steht im sechsten Kapitel seines zweiten Romans „Der Rosinenkönig“: Ich hatte starke Kopfschmerzen, die aber im nächsten Moment verschwinden sollten, denn plötzlich war sie einfach da, eine gute Armlänge entfernt. Eine Callicera!

Von Sjöberg (oder seinem Übersetzer) fälschlicherweise als „Familie“ bezeichnet, sind die Exemplare dieser Schwebfliegengattung „scheu, metallisch glänzend wie byzantinische Bronzeamulette und für ihre Schnelligkeit bekannt“ – und dazu so unberechenbar im Auftreten, dass selbst beharrlichste Sammler mit viel Glück Zeit ihres Lebens meist nur ein einziges Exemplar zu Gesicht bekommen. Und ausgerechnet an diesem Tag hat er keinen Kescher dabei! Da stand ich nun, verkatert und wie gelähmt. Das große Juwel spazierte unbekümmert in einer der sahneweißen Geißfußdolden umher. Mein Gehirn taxierte automatisch die Entfernung. Sie war grenzwertig, aber der Fang schien machbar. Ich hielt die Luft an und hob langsam, ganz langsam den Exhaustorschlauch zum Mund.

Selbstironisches ...

Das auffälligste und namensgebende Merkmal von Schwebfliegen „ist ihre Fähigkeit, mit hoher Konstanz, auch bei bewegter Luft, fliegend auf einer Stelle zu verharren“. So steht es im Lexikon. Und ohne der von Sjöberg liebevoll-akribisch und mit feiner Selbstironie beschriebenen Beutefang-Zeremonie die Spannung zu nehmen: Der Autor vollführt „das längste Einatmen seines Lebens“, hat letztlich Erfolg, bugsiert das begehrte Insekt in sein Sammelröhrchen – und fortan vereinfacht sich sein Leben kolossal, denn:

Die Callicera-Forschung ist einfach ein ideales Betätigungsfeld für jemanden, der sich umschauen und zur intellektuellen Entwicklung beitragen möchte, ohne sich deshalb mit schwerer Ausrüstung und riesigen naturwissenschaftlichen Sammlungen herumplagen zu müssen. Ein Kescher und ein Exhaustor, ein bisschen Zyankali und viel Zeit sind alles, was man benötigt, sowie möglicherweise einen gewissen Gleichmut und die Gabe, sich an kleinen Dingen, eventuell auch an gar nichts, zu erfreuen.


... und (Auto)biografisches

Sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Ja, Sjöberg hat es geschafft. Er gehört zum Club. Er und die von ihm portraitierten Sonderlinge (zumeist Naturforscher des 19. Jahrhunderts).

Laut der vom Galiani-Berlin-Verlag mitgelieferten Inhaltsbeschreibung soll dieses „seltsame und wunderbare Buch“ ja in erster Linie den schwedischen Naturforscher Gustaf Eisen portraitieren – einen Mann, an den sich heute „kein Normalsterblicher mehr erinnert“. Doch bis Seite 72 ist dieser Herr Eisen nur gelegentlich und eher als begleitende denn als Hauptfigur aufgetreten.

Das macht gar nichts, ja, das ist vielleicht sogar ganz gut so. Dürfen wir doch stattdessen miterleben, wie der halbwüchsige Sjöberg einst auf dem Obstmarkt „Birnen, die ultraviolettes Licht abstrahlen“ zur Anlockung von Schwärmern zu kaufen sucht (und sich hinterher für seine Naivi­tät vor seiner Lehrerin in Grund und Boden schämt); wir erleben ihn bei vergeblichen nächtlichen Versuchen, eine Insekten-anlockende Straßenbeleuchtung zu entwenden; und wir sind dabei, wie er sich nach einer erfahrungsreichen (und kostspieligen) Kindheitskarriere als Insektensammler schließlich den zweiflügeligen Nektarleckern (den Syrphidae alias Schwebfliegen) zuwendet.

Sjöberg studierte sogar noch Biologie und Geologie. Doch dann wollte er sich nicht spezialisieren, nicht in seinen Wissbegierden einengen lassen – und verzichtete zugunsten seines Hobbys auf einen künftigen Akademikerstatus. Er kaufte einem notorischen und rechtskräftig verurteilten Bücherkleptomanen dessen idyllisches Haus am See ab und plauschte dort mit Al Gore bei einer Tasse Kaffee über Schweden und das Weltklima. Naja, zumindest beinahe. In Wahrheit kam Gore nie nach Schweden – doch wäre er gekommen, dann bestimmt zu Sjöbergs Haus am See. Da ist sich der Autor sicher.

Heute arbeitet Sjöberg als Übersetzer (ja, auch von Al Gore!), freier Journalist und Schriftsteller. In „Der Rosinenkönig“ bringt er uns ein gutes Halbdutzend verschrobener Gestalten nahe, etwa den schwedischen Nationalschriftsteller und Exzentriker Johan August Strindberg; den „fröhlichen Tausendsassa, Schlawiner und Tausendfüßler-Experten“ Anton Stuxberg; den welteinzigen Blauwal-Ausstopfer August Wilhelm Malm; die im „Men(!) of Science“-Almanach gelistete kanadische Amateurbotanikerin Alice Eastwood, die 1906 aus dem brennenden Uni-Herbar San Franciscos unter Lebensgefahr 1.200 Typusexemplare rettete; sowie allerhand weitere skurrile Eigenbrötler. Und den alten Charles Darwin natürlich, auf seinem Landgut in Down den grummelnden Magen pflegend, und dabei ein Buch über Regenwürmer schreibend.


Verschrobenes Universalgenie

Und allmählich erfahren wir auch mehr über Gustaf Eisen, dieses verschrobene, nach Kalifornien ausgewanderte Universalgenie der Naturforscher, dessen Name und Leistungen bislang allenfalls ein paar Historikern geläufig waren. Eisen war nicht nur für Charles Darwin „der Gott der Regenwurmforschung“ und dazu ein ausgewiesener Anopheles-Experte. Nahezu 50 Arten, fünf Gattungen und sogar eine Unterfamilie von Braunalgen, Grashüpfern, Ruderfußkrebsen, Puppenparasiten und sonstigem Gewürm haben Kollegen nach ihm benannt: „Noch 2005 fand jemand, Eisen habe einen weiteren Regenwurm verdient. Völlig in Vergessenheit geraten ist er offenbar also doch nicht“, bemerkt Sjöberg.

Wie der Romantitel andeutet, war Eisen zudem eine Kapazität in der Frisch- und Trockenobstbau-Industrie; er war aber auch Naturschützer und Illustrator, Kartograf und Entdecker, Künstler und – natürlich – Sammler, unter anderem von Glasperlen sowie der weltgrößten Kollektion antiker Mayatrachten („The Gustavus A. Eisen Collection“).

Ab 1888 betrieb Eisen Seite an Seite mit dem amerikanischen Umweltschutz-Heros John Muir eine politische Kampagne zur Rettung der Riesenmammutbäume (Sequoiadendron giganteum) der Sierra Nevada. Mit Erfolg: am 9. September 1890 wurde der Sequoia National Park gegründet. Eisens sterbliche Überreste sind – unweit des General Sherman Trees, des größten lebenden Baums der Erde – am Fuße des 3.714 Meter hohen Mount Eisen in ebendiesem Nationalpark begraben.


Innige Widmung

Mit einem durchgehenden Handlungsstrang kann Sjöbergs Sammlung anekdotischer, selbst erlebter beziehungsweise anhand zeitgenössischer Berichte nacherzählter Anekdoten nicht dienen. Braucht sie auch nicht, denn dafür kann man in diesem Buch problemlos von hinten nach vorne oder auch kreuz und quer schmökern, ohne den Faden zu verlieren – oder eines der im Schnitt nur 13 Seiten kurzen Kapitel einem vertrauten Menschen vor dem Zubettgehen vorlesen. Er macht gelegentlich lange, sehr lange Sätze, dieser Schwede – eine Unart, der auch der Rezensent anhängt. Doch Sjöberg kann das. Man muss keinen Satz in diesem entzückenden Buch zweimal lesen. Nein, man möchte es hinterher gleich nochmal ganz lesen.

„Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen“ lautet der Untertitel dieses Buchs. Der eine oder andere Stubenhocker, der selbst nie in kurzen Hosen mit Botanisiertrommel und Exhaustor unterwegs war, wird wohl mit Unverständnis auf Sjöbergs enthusiastische Schilderungen reagieren; wird dessen große Leidenschaft, die Naturforschung und deren Historie, nur schwerlich nachvollziehen können.

Alle anderen werden dieses Buch und dessen seltsame Protagonisten heiß und innig lieben.


Letzte Änderungen: 27.06.2011