Buchbesprechung

Hubert Rehm

Editorial

Heinrich Zankl & Katja Betz:
Trotzdem genial: Darwin, Nietzsche, Hawking und Co.

Format: Kindle Edition
Dateigröße: 1636 KB
Seitenzahl der Print-Ausgabe: 300 Seiten
Verlag: Wiley-VCH; Auflage: 1 (28. August 2014)
Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
Sprache: Deutsch
ASIN: B00N6NZYX6
Preis: 21,99 Euro (gebunden), 24,90 Euro (Kindle Edition).

Editorial
Ohne Klatsche kein Genie?
Trotzdem genial: Darwin, Nietzsche, Hawking und Co.

Was macht den Unterschied zwischen normalbegabt und genial? Auch wenn ihre diesbezügliche These schwach ist, haben Heinrich Zankl und Katja Betz ein lesenswertes Buch abgeliefert.

„Um Gottes Willen, schon wieder ein Zankl!“, habe ich gedacht, als ich auspackte, was mir der Laborjournal-Redakteur zugeschickt hatte. Heinrich Zankls Bücher hielt ich bisher für oberflächlich und weich, für Rindenschiffchen, die im Strom des Zeitgeists treiben. Doch diesmal scheint der Stoff stärker gewesen zu sein als sein Autor beziehungsweise seine Autoren. Das Buch mit dem Titel Trotzdem genial fesselt den Leser.

Die These des Buches von Heinrich Zankl und Katja Betz, Genie sei oft das Ergebnis einer Behinderung, können die Autoren freilich nicht belegen. Weder liefern sie eine brauchbare Definition des Begriffes „Genie“, noch sagen sie, was eine Genie-fördernde Behinderung sein soll. Ein statistischer Vergleich mit Unbehinderten ist daher nicht möglich und fehlt auch. Zudem sind manche der vorgestellten Personen gar nicht genial (in welchem Sinne auch immer), und bei manchen entwickelte sich die Behinderung erst nach ihren Geniestreichen (etwa bei Marie Curie) oder sie ist zweifelhaft. Beispielsweise bleibt in Trotzdem genial unklar, an welcher Behinderung Einstein gelitten haben soll. Ist es eine Behinderung, dass er als Kind erst spät zu Sprechen begann? Oder seine Kindlichkeit und Naivität? Oder seine Anlage zur Schürzenjägerei? Letztere behindert einen Forscher in der Tat: Sie nimmt viel Zeit in Anspruch.


Dr. Brackish Okun, Spezialist für extraterrestrische Lebensformen, hier portraitiert im Dokumentarfilm „Independence Day“. Foto: 20th Century Fox

Zwar mag es ein, dass eine Anlage zur Schizophrenie mit außergewöhnlichen geistigen Leistungen korreliert. So war Einsteins Sohn Eduard schizophren und verbrachte einen Großteil seines Lebens im Zürcher Burghölzli Spital (was Zankl seltsamerweise nicht erwähnt). Schizophren waren auch der Nobelpreisträger John Nash und die Rechtsprofessorin Elyn Saks. Einzelfälle beweisen jedoch keinen Zusammenhang und Trotzdem genial stellt nur Einzelfälle zusammen.

Hat jedes Genie einen an der Klatsche?

Neben der Hauptfrage des Buches bleiben auch andere Fragen offen. Finden sich unter Geisteswissenschaftlern mehr Geisteskranke als unter Naturwissenschaftlern? Hat jeder, der Außergewöhnliches denkt, einen an der Klatsche?

Letztere Frage zumindest kann ich mit „Nein“ beantworten: Weder Planck, Warburg, Virchow oder Leibniz scheinen an Psychosen oder körperlichen Behinderungen gelitten zu haben – es sei denn, man dehnt den Begriff der Psychose so weit aus, dass jeder darunter fällt.

Ein weiteres Manko des Buches ist, dass Zankl und Betz die vorgestellten Lebens- und Krankengeschichten nicht selber recherchiert haben und sich auf Sekundärliteratur verließen. Das geht schneller, als selber zu recherchieren, aber man weiß nicht, ob die Biographen, auf die man sich verlässt, alle Primärquellen (Briefe, Tagebücher, Dokumente) genutzt und richtig ausgelegt haben. Erfahrung hat mich gelehrt, dass ein einziger neu entdeckter Brief einen Charakter um 180 Grad drehen kann: Ein zuvor als Widerstandskämpfer Gepriesener mutierte zum heimlichen Nazi.

Dennoch fesselt diese Sammlung von Biographien, denn sie wurden aus dem Blickwinkel der Krankengeschichte geschrieben und diese erlaubt einen tiefen Blick in die Persönlichkeit. Zwei Dutzend Männer und Frauen und ihre Krankheiten stellen Zankl und Betz vor, darunter Isaac Newton, Carl von Linné, Emil Fischer, Viktor Meyer, Albert Einstein, John Nash, Ludwig Wittgenstein, Stephen Hawking, Sigmund Freud und Karl Marx. Sie litten beziehungsweise leiden an amyothropher Lateralsklerose oder Schizophrenie, an Phlegmonen oder Stimmungsschwankungen, an Arthritis, Syphilis, Nikotinsucht, oder sie waren Frühgeburten. Es wird einem schwummrig zumute, wenn man liest, welche Krankheiten und Erbärmlichkeiten hinter welchen Ideen steckten, denn diese entwickelten gelegentlich eine tödlichere Virulenz als Pest und Cholera. Die Ergüsse des Karl Marx beispielsweise haben Millionen Menschen Leben, Lebenszeit und Gesundheit gekostet, und es mutet seltsam an, dass der Erfinder des Marxismus, dieses Furunkel am Leib der Menschheit, an Furunkulose (Akne inversa) litt.

Ein Schummler und Drogensüchtiger

Sigmund Freud wiederum hat sein als Wissenschaft verbrämtes quasireligiöses Konstrukt genial vermarktet und mag damit zu Recht als Genie gelten. Die Freud-Gläubigen zählen nach Millionen und seine Apostel verdienen sich Villen und goldene Nasen. Der Papst dieser Kirche war jedoch ein Schummler – Freuds Kokain­untersuchungen sind ebenso zweifelhaft wie seine Heilerfolge bei der Patientin Anna O. – und von Kokain und Nikotin abhängig wie ein Mastschwein von gekochten Kartoffeln. Er konnte seine Zigarre nicht einmal dann absetzen, als er an Kehlkopfkrebs erkrankte.

Es gibt auch imponierende Persönlichkeiten in der Zanklschen Sammlung. Der schwerhörige Thomas Alva Edison beispielsweise, der zweimal pleite ging und dreimal Millionär wurde, oder Ralph Steinman, der die dendritischen Zellen fand und damit seinen Bauchspeicheldrüsenkrebs bekämpfte. Ohne ihn gäbe es keinen Impfstoff gegen Prostatakrebs.


Sigmund Freud (mit Enkelkindern), als Genie verkannter Vermarkter einer pseudowissenschaftlichen Heilslehre, versäumte es zeitlebens, seine obsessive Zigarren-Manie zu analysieren.

Der Leser lernt, dass mit Selbstdisziplin fast alles geht und ohne sie die besten Gaben verdorren. Zudem gewinnt er den Eindruck, dass die Schulbildung wenig Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit hat. Manche der vorgestellten „Genies“ waren gelangweilte Schüler, andere glänzten, manche gingen selten zur Schule, andere gar nicht, manche hatten ausgezeichnete Lehrer, andere litten unter Paukern und Steißtrommlern. Alle aber haben sich durchgesetzt. Der Schüler scheint entscheidend zu sein, nicht die Schule oder der Lehrer. Angesichts der Reformitis im deutschen Schulwesen ist das eine beruhigende Erkenntnis.

Und was lernt man über das Wesen der Universität? Dazu eine Episode aus dem Leben von Newton: Sein Onkel schickte ihn auf die Uni, weil er nicht zum Schweinehüten taugte. Heute geht die Hälfte eines Jahrgangs auf die Uni – viele davon sind wohl ebenfalls zu nichts anderem gut.

Beziehungen wichtiger als Leistung

Bei vielen Lebensläufen fällt auf, dass der jeweils Hochbegabte seinen Aufstieg nicht seinen Leistungen, sondern Verbindungen zu danken hat. Nietzsche etwa wurde nur deswegen mit 24 Jahren Professor, weil sein Mentor sich für ihn eingesetzt hatte. Pierre Curie, der Mann von Marie Curie, dagegen erhielt erst nach dem Nobelpreis einen Lehrstuhl und Einsteins ersten Habilitationsantrag lehnte die Universität Bern ab. Der zuständige Professor meinte: „Was Sie da geschrieben haben, das verstehe ich überhaupt nicht“.



Letzte Änderungen: 12.03.2015


Editorial

Editorial