Editorial

Buchbesprechung

Karin Hollricher




Ernst Peter Fischer:
Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens.
Gebundene Ausgabe: 336 Seiten
Verlag: Siedler Verlag; Auflage: 2 (6. März 2017)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3827500753
ISBN-13: 978-3827500755
Preis: 25 Euro (gebunden), 20 Euro (Kindle)

Eine lesenswerte Reise durch die Geschichte der Gene mit all ihren faszinierenden Experimenten, falschen Einschätzungen und Fehlurteilen – bis hin zur modernen Gentechnik und deren praktischen Anwendungen.

Der Heidelberger Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer ist ein fleißiger Welterklärer. In seinem neuesten Buch Treffen sich zwei Gene erklärt er uns, was ein Gen ist. Aber warum eigentlich ein Buch zur Definition des Gens? Seit 64 Jahren kennen wir die Struktur der DNA, seit 14 Jahren die Sequenz des Humangenoms. Und da muss uns jemand darüber aufklären, was ein Gen ist?

Ja, genau. Versuchen Sie sich mal an einer kurzen Antwort. Gar nicht so einfach, oder? Denn „Ein Gen = ein Protein“ ist lange vorbei.

Das Gen hat eine lange Geschichte – angefangen mit Johann Gregor Mendel, der ab 1854 erstmals die Existenz Merkmals-ausprägender Faktoren postulierte, und fortgeführt vom dänischen Botaniker Wilhelm Johannsen, der 1909 den Begriff „Gen“ als Träger der Vererbung einführte. Diese Geschichte erzählt Fischer gewohnt wortgewandt auf 336 Seiten. Erst zerlegt er das Gen gründlich, dann versucht er es wieder zusammen zu setzen. Allerdings gelingt das nicht so recht, was man aber nicht der Unfähigkeit des Autors zurechnen muss. Das moderne Gen ist halt einfach unscharf – wie so vieles in der Biologie, was sie von den scharfen Definitionen und Gesetzen der Physik unterscheidet.

Die Definition der Profis

Machen wir’s wie Fischer: Konsultieren wir Wikipedia. Dort steht, dass Anfang 2006 ein 25 Wissenschaftler starker Trupp des ­Sequence Ontologie Consortiums der Universität Berkeley zwei Tage benötigt hätte, um eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs „Gen“ zu liefern. Die liest sich wie folgt:

A locatable region of genomic sequence, corresponding to a unit of inheritance, which is associated with regulatory regions, transcribed regions and/or other functional sequence regions.

Nun ja, ein bisschen verschwurbelt, aber das hätten Sie und ich wohl auch so ähnlich hinbekommen. Und mal ehrlich: Klingt dieser Geniestreich der Berkeley-Vollprofis wirklich so viel anders als vor zwanzig oder vierzig Jahren?

Das älteste Buch in meinem Regal zu Genen stammt aus dem Jahr 1978, in einer Auflage von 1994, verfasst von Richard Dawkins. Darin schreibt er, es gäbe gar keine allgemein anerkannte Definition eines Gens. Er versucht sich dennoch daran: „Wenn wir wollen, können wir ein einzelnes Gen als eine Sequenz von Nukleotidbuchstaben definieren, die zwischen einem Symbol für „Anfang“ und einem Symbol für „Ende“ liegen und eine Eiweißkette codieren.“ Heute wissen wir, dass zwischen Start und Stop nur der kodierende Bereich liegt; die Kontrollbereiche sitzen außerhalb. Außerdem wurden Gene entdeckt, die nicht für Eiweiße sondern für nicht-translatierte RNAs kodieren. Letzere Erkenntnis hat das ENCODE-Konsortium – die Nachfolge-Organisation des Humangenomprojekts – in seiner Definition berücksichtigt: “A gene is a union of genomic sequences encoding a coherent set of potentially overlapping functional products.“ Das ist zwar korrekt, aber auch ziemlich schwammig.

Das Gen ist halt unscharf

Fischer hat aus seiner sicherlich umfangreichen Bibliothek den Klassiker „Molecular Biology of the Gene“ in der Auflage von 1987 ausgewählt. Daraus zitiert er: „Heute kennt kein Molekularbiologe mehr alle wichtigen Tatsachen über das Gen.“ Das allerdings ist keine Definition, sondern eine Tatsache, die leider auf viele Dinge des modernen Lebens zutrifft. Wer kennt schon alle Tatsachen über sein Mobiltelefon? Fischer hätte deshalb auch noch den zweiten Satz des Vorworts zitieren sollen: „This was not the case in 1965 when the first edition of Molecular Biology of the Gene appeared. Then there were …. not too many facts to learn.“

Wohl wahr. Je genauer wir hinschauen, desto unschärfer wird das Gen. „Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß“, wusste schon Albert Einstein, ganz in der Tradition der antiken Philosophen seit Sokrates. Er sagte die Gravitationswellen schon 1916 vorher; erst hundert Jahre später konnte man sie auch messen.

Ganz ähnlich ist’s auch in der Molekularbiologie: Zum schlichten Gen zwischen Start und Stop kamen die Introns, das differenzielle Splicing, weite Sequenzbereiche mit kontrollierender Funktion, überlappende Gene, verschiedene Leserichtungen, genomische Variabilität, die Epigenetik und vieles mehr. Allein um sich das alles mal wieder ins Gedächtnis zu rufen, lohnt es sich, in Fischers Buch zu schmökern – gerade wenn man meint, schon alles über Gene zu wissen. Der Autor findet nämlich immer wieder interessante Gesichtspunkte; er bleibt auch nicht in der Welt der Physik oder Biologie, der Atome und Moleküle verhaftet, sondern schlägt Brücken zu Philosophie, Ethik, Literatur und Geschichte. Und er spart auch nicht mit Anekdoten, die er mit einer Prise Humor würzt.

Ein Beispiel: „Als das gewohnte und verlässliche Sein des Dings namens Gen gegen ein genetisches Werden in Form eines gerichteten Ablaufs – eines mit Molekülen in Zellen stattfindenden Prozesses – eingetauscht wurde, da tauchte die hübsche Idee auf, das Gen nicht mehr als Substantiv zu verwenden, sondern ein Verb – ein Tätigkeitswort – aus ihm zu machen.“

Im Ernst: Tiere und Pflanzen genen – und wir machen mit. Diese Idee schenkte Evelyn Fox Keller vor elf Jahren der Welt. Was bedeutet das? Fischer meint dazu, er müsse da an Martin Heidegger denken, „der das Ende der Philosophie für den Fall kommen sah, dass sich ihre Vertreter verständlich ausdrücken.“ So gesehen ist Fischer mit der Epistemologie des Gens völlig am Ende – denn er drückt sich wirklich verständlich aus. Auch der Laie kann das dargelegte Fachwissen verdauen, Biologen sowieso.

Als großer Fan der Wissenschaft kritisiert Fischer immer wieder wissenschaftliche Ingnoranz. Vermutlich deshalb behandelt er auch das Thema Genome Editing mit CRISPR/Cas-Systemen. Denn diese neue Technik sollte man kennen, meint er, bevor man darüber urteile, ob man sie zur Nutzung an Pflanzen (Stichwort: Grüne Gentechnik) und Menschen (Stichwort: Gentherapie) akzeptiere oder ablehne. Verantwortlich handeln könne man nur, wenn man die Wissenschaft kenne oder versuche, sie kennenzulernen, so Fischer.

Und genau damit können Sie, liebe Leser, nun beginnen: Legen Sie Ihre digitale Droge namens Smartphone weg und lesen Sie mal wieder ein Wissenschaftsbuch – das hier vorgestellte, aber auch andere. Sie werden sehen: Das macht mehr Spaß als nervöses Bildschirmwischen im Zehn-Minuten-Takt.




Letzte Änderungen: 08.12.2017