Editorial

20 Jahre Laborjournal

Lost in Translation?

Von Ulrich Gerth & Hans Schöler, Münster


(11.07.2014) Krankheitsmodelle und Arzneimitteltests „made in Germany“ am Beispiel Stammzellen. Zugleich ein Plädoyer für die Gründung translationaler Zentren in der deutschen Forschungslandschaft.

Bis zu fünfzehn Jahre dauert es heute im Durchschnitt, bis ein neues Medikament zugelassen wird. Dieser Prozess ist mit vielen Risiken sowie Forschungs- und Entwicklungskosten in Milliardenhöhe verbunden, die sich wiederum als Kostensteigerungen für die Gesundheitssysteme niederschlagen. Daher sind neue Wege gefragt, die diesen enormen Aufwand reduzieren und gleichzeitig zu mehr und besseren Wirkstoffen führen sollen.

Für die Wirkstoff-Forschung sind so genannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) des Menschen und von ihnen abgeleitete Zellen schlichtweg ideal. Problemlos können wir inzwischen Hautzellen des Menschen in diese Alleskönner-Zellen umwandeln, aus denen man nachfolgend wiederum eine Vielzahl von anderen Zelltypen ableiten kann. Diese Kombination aus Reprogrammierung zur Pluripotenz und der anschließenden Differenzierung in einen gewünschten Zelltyp bildet aktuell die Grundlage für eine neue Ära der regenerativen Medizin und der Wirkstoffforschung. Forscher können etwa in der Kulturschale menschliche Krankheitsmodelle entwickeln und darin hunderttausende von chemischen Substanzen an Zellen testen, die genau denen des jeweiligen Patienten entsprechen. Aspekte von Krankheiten lassen sich so nicht nur besser verstehen, sondern regelrecht modulieren. Durch Erbveränderungen bedingte Hyperaktivitäten in der Zelle lassen sich etwa durch bestimmte identifizierte Substanzen dämpfen, Mangelerscheinungen durch andere zumindest teilweise beheben. Und natürlich können solche Substanzen generell als Grundlage für potentielle Arzneimittel geprüft werden.

Umwege über Tiermodelle sind zumindest in der Anfangsphase der Arzneimittelentwicklung nicht nötig, da solche Tests an kultivierten menschlichen Zellen durchgeführt werden können. Zwar sind Untersuchungen an Zellen in ihrer Aussagekraft denen an Organismen in ihrer Aussagekraft meist unterlegen. So kann ein Wirkstoff verheerende Nebenwirkungen in anderen Zellen zeigen. Aber hier lassen sich Tierversuche dadurch weiter reduzieren, dass man andere Zelltypen in die Untersuchungen einbezieht. Indem man toxikologische Nebenwirkungen beispielsweise an unterschiedlichen, von iPS Zellen abgeleiteten Leber- und Herzmuskelzellen untersucht, kann man schon lange vor den ersten klinischen Tests Substanzen mit Nebenwirkungen erkennen. Solche Substanzen kann man entweder aussortieren oder so modifizieren, dass sie spezifischer und effektiver werden und keine schädlichen Nebenwirkungen haben. Nur die aussichtsreichsten Wirkstoffkandidaten würden dann in die aufwändigen und kostenintensiven klinischen Versuchsphasen gelangen. Hierdurch würden sich sowohl finanzielle Risiken der Pharmaentwicklung als auch gesundheitliche Risiken für die Patienten minimieren.

Die federführend am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin entwickelte Technologie und die Nutzung der daraus resultierenden Krankheits- beziehungsweise Testmodelle versprechen folglich eine erhebliche Beschleunigung und Verbesserung bei der Entwicklung neuer Arzneimittel und zellbasierter Therapien. Nicht zuletzt deswegen wurden mittels dieser Technologien erzielte Ergebnisse mit dem Innovationspreis der Bioregionen Deutschlands und dem Wissenschaftspreis des Industrie-Clubs Düsseldorf ausgezeichnet. Um die bislang meist grundlagenorientierte Stammzellforschung nun weiter für die Anwendung zu erschließen, engagieren wir uns aktuell für die Gründung sogenannter translationaler Zentren.

Die Suche nach neuen Wirkstoffen verlangt robuste Testsysteme mit verlässlichen Kontrollen und einer geringen Chargenstreuung. Hierfür müssen die relevanten Zellen in ausreichender Zahl und Quantität zur Verfügung stehen. Eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines Testsystems ist es also, die geeigneten Zelltypen in großen Mengen zu gewinnen. In den meisten Fällen ist dies bisher nicht möglich gewesen; schon gar nicht konnte man mit humanen Primärkulturen ausreichende Zellzahlen erzielen. Man griff daher auf Zelllinien zurück, obwohl sich diese häufig stark von den eigentlich relevanten Zellen unterschieden. Oft genug bestand eine große Unsicherheit bezüglich der Belastbarkeit der an ihnen gewonnenen Ergebnisse, was wiederum den Nutzen dieser „präklinischen Modelle“ in Frage stellte. Durch die Etablierung von Protokollen, nach denen man humane iPS-Zellen in die gewünschten Zellen differenzieren kann, ist es nun möglich, die für die Testverfahren notwenigen Zellzahlen zu erhalten.

Weiterhin sollten die verwendeten Zellen Merkmale der jeweiligen Krankheit physiologisch möglichst genau abbilden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die regulatorischen Netzwerke und Signalkaskaden der Zelle erhalten bleiben und nicht etwa durch Überexpression bestimmter Gene aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Möchte man etwa für einen bestimmten Rezeptor ein Testverfahren entwickeln, so sollte man möglichst solche Zellen von iPS-Zellen ableiten, die diesen Rezeptor ohnehin bilden. Exprimiert man den Rezeptor dagegen in Zellen, die ihn sonst nicht in ihrem Repertoire haben, dann könnte der für ihre Funktionalität notwendige Kontext fehlen. Signale, die von dem Rezeptor normalerweise ausgehen, könnten ins Leere laufen oder vielleicht sogar falsche Signalwege aktivieren. Wiederum stellen iPS-Zellen hier eine Lösung dar, da die relevanten Zellen mit der jeweiligen Mutation abgeleitet werden können.

Äußerst wichtig für ein erfolgreiches Testverfahren sind zudem geeignete Kontrollen. Hier möchte man nicht irgendwelche Vergleichszellen einsetzen, sondern solche, die sich möglichst wenig von denen des Patienten unterscheiden. Ansonsten könnten die wichtigen Merkmale, die durch eine Mutation entstehen, nicht mehr zu unterscheiden sein von den zahlreichen Unterschieden, die durch die Variabilität menschlicher Genome bedingt sind. Aus demselben Grund setzt man seit Jahrzehnten sehr erfolgreich Inzuchtstämme von Mäusen in der Grundlagenforschung ein. Inzwischen gibt es auch für humane Zellen eine Lösung. In den letzten Jahren wurde eine Vorgehensweise entwickelt, mit der der Einfluss von Mutationen in humanen Zellen recht präzise bestimmt werden kann. Durch äußerst elegante und effiziente Verfahren können nämlich gezielt Mutationen ins Genom eingeführt oder repariert werden (Mol Biotechnol. 2014 May 29., Epub ahead of print). Somit kann man Zellen vergleichen, die sich nur in einer einzigen Mutation unterscheiden.

Es ist abzusehen, dass die Arzneimittelentwicklung durch die Kombination dieser drei Verfahrensweisen einen gewaltigen Schub erhalten wird. Die iPS-Technologie gepaart mit gezielten Genomveränderungen und Differenzierungsprotokollen bringt für die nach Wirkstoffen forschende Life-Science-Industrie deutliche Verbesserungen mit Blick auf die Qualität der Ergebnisse, die Beseitigung von Stör- und Schwachstellen und die Einsparung von Kosten. Zudem ist die Anwendung der Technologien im „Drug Discovery“-Prozess zur Entwicklung neuer Arzneimittel ethisch unbedenklich, weil embryonale Stammzellen dazu nicht benötigt werden und die Zahl der Testtiere deutlich reduziert wird.

Bei der Rasanz der Neuentwicklungen in den letzten Jahren wird es wohl auch weiterhin immer wieder wichtige Vereinfachungen in den Verfahren geben. Trotz der gewaltigen Fortschritte gibt es aber sicherlich noch eine Reihe von Hürden zu überwinden, bis die geschilderten Verfahrensweisen in die Routineanwendung überführt werden können. Diese beziehen sich unter anderem auf die Entwicklung automatisierter Nachweismethoden, den sogenannten Assays. Auch deren Überführung in das Hochdurchsatzformat stellt die Forscher vor weitere Herausforderungen. Probleme bei der Standardisierung und Qualitätskontrolle der Verfahren und Prozesse, aber auch mit der Sicherheit beim Einsatz in der zellbasierten Therapie müssen ebenfalls gelöst werden. Solche und weitere Fragestellungen werden uns noch viele Jahre lang herausfordern, aber auch zu wertschöpfenden Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten beitragen.

So wird es sicherlich eine Vielzahl weiterer Methoden und Protokolle zur Generierung von Stammzelltypen geben, die für bestimmte Aufgaben geeigneter sind als iPS-Zellen. Beispielsweise ist es uns gelungen, Hautzellen in Stammzellen des Nervensystems umzuwandeln. Aber die wichtigste Aufgabe wird es sein, die gezielte Differenzierung von Stammzellen in die jeweiligen Wunschzelltypen zu optimieren. Insbesondere zur Gewinnung dringend benötigter Zelltypen wie etwa Insulin-produzierender Beta-Zellen oder Hepatozyten müssen wohl noch große Forschungsanstrengungen unternommen werden.

Dennoch bestehen bereits jetzt Möglichkeiten zur Wertschöpfung, die nicht von in weiter Ferne liegenden Entwicklungserfolgen abhängig sind. Beispielsweise gibt es Wirkstoffe, die bisher verworfen wurden, weil sie bei bestimmten Patienten unerwünschte Nebenwirkungen zeigten. Diese können aber durchaus für bestimmte Patienten von Nutzen sein. Während eine bisher wenig differenzierte Evaluierung dazu führte, dass viele solcher Moleküle als unwirtschaftlich eingestuft und nicht weiterentwickelt wurden, kann gerade die iPS-Technologie helfen, solche Entscheidungen zu revidieren und so auch die Wirtschaftlichkeit von F&E-Vorhaben massiv zu steigern. Zudem stärkt die iPS-Technologie substantiell das uns zur Verfügung stehende Instrumentarium, das auf kleine Patientengruppen abzielt und für patientenspezifische Therapien vieler Erkrankungen notwendig ist. Sie leistet somit einen wertvollen Beitrag zur Realisierung der personalisierten Medizin. Damit ermöglicht diese Technologie auch Entwicklungen bis hin zu autologen Therapien, ein tatsächlich individualtherapeutisches Angebot für den jeweiligen Patienten, wie es in der personalisierten Medizin heute gefordert wird.

Gleichzeitig eröffnen sich ganz neue Forschungsfelder wie das „Ageing“. Wir beschäftigen uns schon heute mit dem Phänomen des Alterns von Stammzell­nischen in vivo, welches dem Regenerationsvermögen bestimmter Organsysteme im Laufe der Ontogenese entgegenwirkt. Medizinische Lösungen für diese Herausforderungen, wie im EU-Report „Europe needs to prepare for growing older“ beschrieben, werden sich mithilfe der iPS-Technologie finden lassen (siehe http://ec.europa.eu/economy_finance/articles/structural_reforms/2012-05-15_ageing_report_en.htm). Es wird unser langfristiges Ziel sein, eine neue Wirkstoffklasse zu entwickeln, welche ausgewählte, im Patienten ruhende Stammzellnischen gezielt aktiviert und so im Körper regenerative Prozesse in Gang setzt.

Neben gesundheitlichen Problemen wie etwa Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, Alzheimer-Demenz oder Morbus Parkinson, von denen viele Menschen betroffen sind, gibt es Erkrankungen, an denen nur wenige Menschen leiden. Da es Tausende solcher seltenen Erkrankungen gibt – nach Schätzungen gibt es allein in Deutschland 5.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen –, ist eine konventionelle Vorgehensweise bei der Erforschung und Heilung solcher Krankheiten völlig utopisch. Die iPS-Technologie bietet gerade hier ganz neue Möglichkeiten, da durch Automatisierung der Abläufe sehr viele Proben parallel untersucht werden können.

Die Plattformtechnologie der induzierten pluripotenten Stammzellen setzt nachhaltig Impulse in der regenerativen Stammzellforschung und benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen. Davon profitieren aber auch die nachgelagerten Anwendungsfelder in der Medizin, insbesondere die individualisierte Therapie und die Gesundheitswirtschaft. Um einen raschen Fortschritt in Deutschland zu gewährleisten, sind translationale Zentren mit dem Fokus auf der Funktionalisierung wissenschaftlichen Know-hows von ausschlaggebender Bedeutung. Nur so ist eine effiziente Überbrückung von der Grundlagenforschung zur pharmazeutischen Industrie möglich.

Dabei lässt sich die finanzielle Tragfähigkeit solcher Zentren langfristig sichern. Mögliche zukünftige Erträge werden in Gänze in die weitere Forschung und Entwicklung reinvestiert und heben so sukzessive die Abhängigkeit einer solchen gemeinnützigen Forschungseinrichtung von öffentlicher Finanzierung auf. Sicherlich ist es nicht möglich, eine Garantie für den Erfolg solcher translationalen Zentren zu geben. Aber wo es beispielsweise um das Wohl von Menschen geht wie bei Parkinson- oder Alzheimerpatienten, deren Pflege zudem enorme Summen verschlingt, ist dies ein Risiko, das die öffentliche Hand eingehen sollte.

Diese Überlegungen fügen sich gut ein in die hierzulande in jüngerer Zeit wieder intensiver geführte Diskussion, wonach Wissenschaft konkrete Werte schafft und nicht nur schwierig quantifizierbaren gesellschaftlichen Nutzen. Bereits im Jahr 2007 wurden hierzu in den „Empfehlungen zur Interaktion von Wissenschaft und Wirtschaft“ des Wissenschaftsrats zur Ausgestaltung öffentlich-privater Partnerschaften und im Positionspapier der Allianz für Wissenschaft und Forschung „Innovation durch Kooperation – Maßnahmen für eine effektive Nutzung des Forschungspotentiales von Wissenschaft und Wirtschaft“ adäquate Rahmenbedingungen und Ziele formuliert (www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/7865-07.pdf; www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/allianz/2007/071112_allianz_forschungspotentials.pdf).

In wegweisenden Veröffentlichungen, wie den Beiträgen „Life in the new ecosystem“ und „The Implementation of Novel Collaborative Structures for the Identification and Resolution of Barriers to Pluripotent Stem Cell Translation“, wird das Konzept des „Asset Aggregators“ entwickelt (siehe „BioCentury – Back-to School Issue; Life in the new ecosystem“ Vol. 17(40), Sept. 14, 2009; sowie http://online.liebertpub.com/doi/pdfplus/10.1089/scd.2013.0403). Ein „Asset Aggregator“ bringt Technologien aus der Grundlagenforschung selbstständig oder in Kooperation mit Industriepartnern zu einer Reife, die zur Kommerzialisierung anregt. Ziel des Asset-Aggregator-Modells ist, erst dann die Kommerzialisierung anzustreben, wenn die Industriepartner oder private Kapitalgeber eine In-Wert-Setzung des Assets befürworten und zu signifikanten eigenen Investments bereit sind. Als Nachweis soll ein erster Proof-of-Concept (POC) erbracht werden. Dieser POC kann abhängig vom Projekttyp sowohl ein Proof-of-MOA (mode of action), Proof-of-Pharmacology, Proof-of-Efficacy oder Proof-of-Safety sein. Auch die von uns initiierte Gründung eines translationalen Forschungszentrums namens CARE (Center for Advanced Regenerative Engineering) folgt diesem Konzept. Mit seinem „Multi-Stakeholder“-Ansatz sowohl an klinischen wie auch kommerziellen Bedürfnissen orientiert, wird das CARE die nachhaltige und effiziente Überführung der iPS-Technologie in die Anwendung betreiben und so einen wesentlich Beitrag zur Entwicklung zukünftiger Medikamente und innovativer therapeutischer Ansätze leisten.

Grundsätzlich haben derartige Validierungskonzepte das Potential, auf weitere Technologiefelder auch außerhalb der Life Sciences übertragbar zu sein. Auch der scheidende Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Peter Gruss, setzt in seinem Beitrag „Wie aus der Erkenntnis ein Gewinn wird“ auf innovative, translationale Konzepte zur Wertschöpfung aus Erkenntnissen der Grundlagenforschung (Siehe auch Essay „Mehr Wissen für bessere Medikamente“ auf den Seiten 42-45 in diesem Heft – beziehungsweise http://www.mpg.de/8138124/S002_Blickpunkt_006-007.pdf). Erste Modelle für die Translation von grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen in die Anwendung sind im Entstehen begriffen und damit beschäftigt, ihren „Proof-of-Concept“ zu erbringen. So hat etwa das Lead Discovery Center in Dortmund bereits signifikante Erfolge dieser Art vorzuweisen. Begleitet werden diese Initiativen von Stimmen, die von der deutschen und europäischen Forschungs- und Innovationspolitik ein verstärktes Engagement in Translationsprojekten fordern.

Ebenfalls in diese Richtung wird das Wissenschaftsfreiheitsgesetz seine Wirkung entfalten. Forschungsmittel sollen flexibler und damit wirksamer, effizienter und zielorientierter als bisher eingesetzt werden dürfen. Das Führen von Globalhaushalten soll außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen mehr Freiheit bei Finanz- und Personalentscheidungen, der Bündelung von Kompetenzen, dem Abbau bürokratischer Hemmnisse und der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren erlauben. Dieses Gesetz folgt der Einsicht, dass innovative Forschung nur selten festen und planbaren Schemata folgt, wohingegen autonome Handlungsspielräume wesentlich für zukünftige Erfolge sind. Ralf Eichler, Präsident der ETH Zürich, führt beispielsweise Autonomie als den Erfolgsfaktor an allererster Stelle an.

Es darf dabei nicht vergessen werden, dass es sich bei diesen translationalen Aktivitäten um Validierungsinitiativen handelt. Diese haben in der ihnen eigenen Vorkeim-Phase, auch „Pre-Seed“-Phase genannt, inhärente Risiken, die eine Beweisführung wirtschaftlicher Tragfähigkeit im Vorfeld nur annäherungsweise seriös erlauben.v Nach unserer Wahrnehmung des Marktgeschehens werden noch immer zahlreiche Erfolg versprechende Innova­tionspfade ungenutzt gelassen, weil es gerade im deutschsprachigen Raum vielen Marktteilnehmern, aber auch öffentlichen Förderern, ganz erheblich an Erfahrung und Mut im Umgang mit solchen Optionen in der „Pre-Seed“-Phase mangelt. Dies manifestiert trotz aller Beteuerungen eines globalen Denkens und Handelns einen klaren Wettbewerbsnachteil für private und staatliche Player hierzulande gegenüber etwa amerikanischen oder asiatischen Konkurrenten.

Gute Erfahrungen diesbezüglich haben wir allerdings mit forschenden Unternehmen gemacht, denn die Wirtschaft betrachtet ihren Mitteleinsatz in translationale Strukturen nicht als Investition mit konkreten „Return on Investment“-Zielen, sondern als Grundlagenförderung im präkompetitiven Bereich. Projekte mit kalkulierbarem Investmentcharakter und eingrenzbarem Chancen- und Risikoprofil entstehen meist gegen Ende solcher Initiativen in Form von Joint-Ventures und Spin-off-Ausgründungen. Denn erst nach einer Reduzierung der Entwicklungsrisiken, zum Beispiel durch Erbringung eines „Proof-of-Concept“, sind Unternehmen und Risikokapital-Investoren erfahrungsgemäß bereit, die notwendigen weiteren Anschlussinvestitionen bereitzustellen.

Für diese spätere kompetitive Entwicklungsphase lassen sich schon heute bei der iPS-Technologie vielversprechende Vergleichswerte aus analogen Kooperationen und Akquisitionen heranziehen. Externe wie auch eigene Marktanalysen eröffnen einen signifikanten Zukunftsmarkt mit deutlichem Wachstum. Zudem kann man von erfolgreichen Vorläufern wie dem Chemical Genomics Center in Dortmund „Best-Practice“-Erfahrungen ableiten und nutzen.

Aus den dargestellten wissenschaftlichen und auch innovationsstrategischen Gründen sind wir davon überzeugt, dass induzierte pluripotente Stammzellen eine disruptive Technologieplattform mit großem Wertschöpfungspotential für die Etablierung eines translationalen Forschungszentrums in Deutschland darstellen, da diese die Regeln der Branche radikal verändern und etablierte Technologien, Vorgehensweisen und Konzepte verdrängen werden. Auch der Aufruf des Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer, welcher Zentren, die „das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Wirtschaft [...] weiter stärken“, als Leistungszentren definiert, macht die Notwendigkeit der Umsetzung derartiger Konzepte deutlich (http://fazjob.net/ratgeber-und-service/beruf-und-chance/ingenieure/124380_Das-Silicon-Valley-ist-der-Massstab.html). Ein effizienter Wissens- und Technologietransfer aus Wissenschaft und Forschung in die Entwicklungs- und Produktionsprozesse der Industrie stellt sich zunehmend als geschwindigkeitsbestimmender Schritt für wirtschaftliches Wachstum dar (Siehe: WhitePaper: „ChangeLeaders“ – Expertenrunde Forschung und Technologietransfer im Mai 2014; „Strategie- und Kompetenzentwicklung in Forschungs- und Technologietransfer-Organisationen“. Baumgartner Partner & Matrix GmbH & Co. KG).

Daher gilt es, neue Formen des Managements von Forschung und Entwicklung umzusetzen und zu erproben, denn aktuell klafft hier noch eine klar identifizierbare strukturelle Lücke in der Wertschöpfungskette. Leider wird noch viel zu oft und zu lange an allgemeinen Strukturen und Methoden des Technologietransfers gebastelt, anstatt auf innovative Konzepte extrem flexibler und sich stets neu erfindender Selbstorganisation zu setzen. Hier wird die Kreativität und Intelligenz der Beteiligten meist deutlich unterschätzt und neuen Leitbildern und Kompetenzmodellen mit großer Skepsis begegnet.

Zudem müssen sich translationale Konzepte in Europa und vor allem in Deutschland in einem Umfeld mit starker Risikoaversion bewähren. Dagegen treffen wir im globalen Wettbewerb um Innovationen beispielsweise in den USA bei einigen Akteuren auf eine extrem risiko­tolerante Grundhaltung. Könnte man diese Rahmenbedingungen ändern, so würde sich die Effizienz bei der Verwertung von Innovationspotentialen deutlich erhöhen, und zwar nicht nur in der Stammzell- und Wirkstoffforschung. Dies würde langfristig die Wettbewerbsfähigkeit des Innovations- und Technologiestandorts Deutschland stärken.

Ulrich C. Gerth ist designierter Managing Director des Center for Advanced Regenerative Engineering (CARE) und Senior Consultant bei Matrix GmbH & Co. KG
Hans R. Schöler ist Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Abteilung für Zell- und Entwicklungsbiologie, in Münster.


Letzte Änderungen: 11.07.2014