Editorial

"Mehr Licht"

Das „Hammer-Prinzip“

Von Nero Bliss


(12.07.2016) Auch Forscher machen Fehler. Doch Hadern und vor allem Beschweren bringt nichts – das zeigt schon pure Statistik. Am besten also einfach korrigieren und weitermachen!

Essays
Illustration: Fotolia / freshideas

Beschwerden haben mir jahrzehntelang schlaflose Nächte verursacht, weil ich sehr harmoniebedürftig bin und alles richtig machen will. Sie werden zu meinem persönlichen Problem, wenn ich tatsächlich oder ex officio für die entsprechenden Ursachen verantwortlich bin. Dabei macht doch jeder Fehler. Und genau deshalb bin auch ich immer wieder das direkte Ziel von Beschwerden: Beim Einkaufen den Puderzucker vergessen, das Fenster offen gelassen, den Autoschlüssel nicht ans Schlüsselbrett zurückgehängt... Oder bei der Arbeit: Nicht rechtzeitig alle Beteiligten informiert, in Eile und daher intransparent entschieden, wichtige Angelegenheiten verzögert oder vergessen ... Ich bin kein schlechter Mensch und mache all das nicht absichtlich. Es passiert einfach. All das sind menschliche Fehler, finde ich – und ich kann sie meistens wieder gerade biegen.

Komplizierter und weitaus vielfältiger wird die Angelegenheit bei Beschwerden über Probleme, die ich ex officio zu verantworten habe oder lösen muss. Hier reicht das Spektrum von nicht sauber hinterlassenen Toiletten [sic!] über unzureichend gereinigte Büros und Schreibtische bis zu Versäumnissen bei der Ankündigung von Baumaßnahmen. Und es fällt mir gelegentlich wirklich schwer, nicht von einem überhöhten Anspruchsdenken auszugehen, das unsere insgesamt exzellenten Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen vollkommen außer Acht lässt.

Im Labor führen zu entsprechenden Schwierigkeiten und Beschwerden typischerweise aufgebrauchte Reagenzien, die nicht wiederbestellt wurden, oder unordentlich zurück gelassene Instrumente und Arbeitsplätze. Natürlich ist das ärgerlich. Und entsprechend kommt es in solchen Fällen bei unseren wöchentlichen Laborkonferenzen immer wieder zu langwierigen Diskussionen. Weil aber offenbar die gegenseitige Loyalität unter den Kolleginnen und Kollegen zu groß ist, finde ich jedoch nie heraus, wer wirklich die Schuld trägt. Die Leute halten dicht – und es sieht nicht so aus, als seien immer wieder dieselben schwarzen Schafe für das Chaos verantwortlich.

In der Regel folgen auf solche Diskussionen ernsthafte Aufforderungen zur Besserung und die Implementation von Gegenmaßnahmen. Aber es ändert sich nichts. Die Frequenz des Fehlverhaltens und der entsprechenden Beschwerden bleibt relativ konstant: Etwa drei- bis fünfmal im Jahr kommt es zu Eskalationen. Und weil sich nichts ändert, ist die Stimmung bei der Erörterung solcher Probleme zumeist extrem gereizt und hoffnungslos – als hätten wir es mit lauter unverbesserlichen, kritikresistenten, gedankenlosen und egoistischen Schmutzfinken zu tun.

Dass das wahrscheinlich nicht der Fall ist und unsere Schwierigkeiten mit aufgebrauchten Reagenzien und verdreckten Arbeitsplätzen möglicherweise naturgegeben sein könnten, ging mir nach einem Kommentar meines Kollegen Henry Marteau auf. Während einer besonders hitzigen Diskussion meinte er, dass wir ganz auf Beschwerden und deren Analyse verzichten sollten, weil unsere Chaos-Frequenz im Rahmen der ganz normalen menschlichen Fehlerquote liege: Selbst wenn jedes Mitglied unserer Gruppe nur einmal im Jahr einen blöden Fehler mache, müssten wir jede zweite Woche eine Beschwerdediskussion führen.

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Ich fand die Marteau-Hypothese vollkommen plausibel – und zudem extrem hilfreich, weil sie wunderbar als universelle Rechtfertigungsstrategie bei eigenen Fehlern dienen kann. Deshalb habe ich sie sofort als „Hammer-Prinzip“ (für le marteau, frz., der Hammer) in mein Argumentations-Arsenal übernommen. Das Problem ist, dass die allermeisten meiner Kolleginnen und Kollegen nicht an das Hammer-Prinzip glauben; vielleicht machen sie ja keine Fehler. Aber inzwischen habe ich Beweise.

Wie erwähnt, ist eines ja sowieso klar: Jeder macht Fehler. Fluglotsen machen Fehler – relativ häufig sogar (bereits ein bis zwei Fehler in 15 Minuten bei zehn zu lotsenden Flugzeugen), wobei die Fehlerquote mit dem Verkehrsaufkommen wächst. Allerdings handelt es sich hier in den allermeisten Fällen um „kleine“ Fehler, die üblicherweise keine fatalen Konsequenzen haben (Moon et al., 2011, J Transport Technol 1: 47-53). NASA-Flugingenieure machen ebenfalls Fehler, wobei die Fehlerquote beispielsweise beim Umschalten eines Schalters im Bereich von 1-2 x 10-3 liegt (www.hq.nasa.gov/office/codeq/rm/docs/hra.pdf).

Tatsächlich werden in allen Bereichen des Lebens Fehler gemacht (Smith, D.J., Reliability, Maintainability and Risk, Elsevier). Die typische Fehlerquote bei Routineaufgaben, die Sorgfalt verlangen, liegt im Bereich von 1-2 x 10-2 (zum Beispiel Milch überkochen lassen, Stecker falsch verbinden, falsche Wahl am Süßigkeitenautomaten). Mit einer durchschnittlichen Fehlerquote von 1 x 10-2 versagen Menschen beim korrekten Ablesen einer Anzeige – was vergleichbar ist mit der korrekten Feststellung, ob ein Reagenziengefäß leer ist. Und wenn Stress oder Müdigkeit hinzukommen, können Fehlerquoten um ein Vielfaches ansteigen.

Wenn man also schon bei der Feststellung, ob ein Reagenziengefäß leer ist oder nicht, von einer normalen menschlichen Fehlerquote von 1 x 10-2 ausgehen muss, kann man abschätzen, wie häufig ein Fehler samt entsprechender Beschwerde und darauf folgender, ärgerlicher Diskussion in unserer Laborkonferenz auftreten müssen. Als Beispiel können die aufgebrauchten und neu beschafften Einheiten an Restriktionsenzymen und Antikörpern dienen, deren Zahl sich im Jahr 2015 in unserer Forschungsabteilung mit vier Arbeitsgruppen auf 314 belief. 314-mal im Jahr musste also mit Sicherheit festgestellt werden, dass ein Reagenziengefäß leer war und wieder beschafft werden musste. Bei einer Fehlerquote von 1 x 10-2 wird dies in etwa drei Fällen pro Jahr vergessen. Diese Zahl – 3 Fehlleistungen pro Jahr – stimmt fast genau mit der Frequenz überein, mit der wir solche Probleme in der Laborkonferenz diskutieren müssen. Und dabei sind Faktoren wie Eile, Stress und Übermüdung oder viele andere Reagenzien, die ebenfalls regelmäßig aufgebraucht werden, nicht einmal berücksichtigt.

Das Hammer-Prinzip ist also gültig, und ich finde, es sollte fortan unsere Einstellung zu Fehlern und Problemen definieren – in allen Lebensbereichen. Basierend auf dem Hammer-Prinzip gehe ich davon aus, dass ich und jede Person in meinem Umfeld mit einer relativ konstanten Frequenz Fehler machen. Diese Fehler sind in der Regel die Konsequenz der normalen menschlichen Fehlerquote und daher nicht auf Gedankenlosigkeit, Böswilligkeit oder Rücksichtslosigkeit zurückzuführen. Es ergibt also gar keinen Sinn, sich über diese Fehler zu beschweren – genauso wenig wie eine Beschwerde über ein Naturphänomen Sinn ergibt. Natürlich existieren Ausnahmen und vereinzelte schwarze Schafe, die direkt und am besten persönlich angegangen werden müssen. Aber in der Regel sollte doch einfach gelten: Fehler korrigieren und weitermachen! Schließlich führen die meisten unserer Fehler nicht zu Flugzeugkollisionen.

Nero Bliss heißt in Wirklichkeit anders und arbeitet als biomedizinischer Forscher in gehobener Position an einem deutschen Institut



Letzte Änderungen: 12.07.2016