Selbstzensur und Produktivitätswahn in der akademischen Wissenschaft

Von Johannes Jäger, Wien


Editorial

(07.07.2020) Die Wissenschaft sieht sich weltweit zunehmend einem anti-intellektuellen, post-faktischen Gesellschaftsklima ausgesetzt. Weit weniger Leute nehmen jedoch wahr, dass die Grundlagen der akademischen Forschungsfreiheit auch von innen unter Druck geraten sind. Dies durch eine ungesunde Mischung aus Produktivitätswahn und karriereorientierter Selbstzensur. Eine Schnelldiagnose und eine paar Anregungen, wie diesen Problemen zu begegnen sein könnte.

In Raffaels „Schule von Athen“ sehen wir das Ideal der antiken Akademie: Philosophen, welche unterschiedlicher nicht sein könnten, denken und argumentieren vertieft, sachlich aber angeregt über die tiefsten Mysterien dieser Welt. Mit Hypatia hat sich sogar eine Frau in die Männerrunde eingeschlichen. Die Denker sind durch ein eindrückliches Gewölbe von den alltäglichen Trivialitäten der Außenwelt abgeschirmt, während der blaue Himmel im Hintergrund genügend offenen Raum für erhabene Gedankenflüge zur Verfügung stellt. Die Gründung der modernen Universität, anfang des 19. Jahrhunderts von Berlin ausgehend, wurde von diesem Ideal beflügelt.

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Foto: Unsplash /Ian Parker ; Montage: LJ

Editorial
Die Forschungsfabrik

Doch heute könnten wir kaum weiter von dieser hehren Vision entfernt sein. Die moderne akademische Forschung gleicht eher einer Fabrik mit Förderband als der illustren Diskussionsrunde von Raffael. Sie ist ganz besonders in den letzten drei oder vier Jahrzehnten nach betriebswirtschaftlichen Kriterien auf Effizienz getrimmt worden. Dies nicht nur in der naturwissenschaftlichen Forschung übrigens, sondern vermehrt auch in den Geisteswissenschaften. Je mehr Geld in die Wissenschaft fließt, desto mehr und desto schneller können sich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler fassbare Resultate erhoffen. Diese erwartet man in der Form von gesellschaftlich relevanten Anwendungen und Lösungsansätzen. „Social Impact“ heißt der entsprechende Paragraph im Forschungsantrag (auch wenn man in der Evolutionsbiologie eher theoretisch ausgerichtet arbeitet). Die Wissenschaft als Deus ex Machina, die unsere Probleme löst, ob technischer oder gesellschaftlicher Art. So wie man heutzutage zum Arzt geht und von der modernen Medizin ein schnell wirkendes Heilmittel erwartet, so rechnet man damit, dass die Wissenschaft praktische Lösungen komplexer Probleme liefert. Oder zumindest einen messbaren Output an Publikationen, welche zu solchen Lösungen führen sollen. Je mehr Geld investiert wird, desto mehr angewandte Weisheit soll also am anderen Ende der Pipeline in Form von wissenschaftlichen Artikeln heraussprudeln.

Schön wär‘s. Leider funktioniert Grundlagenforschung so nicht. Und leider bleibt auch die angewandte Forschung längerfristig stecken, wenn keine echte Grundlagenforschung mehr betrieben wird. Oder wie es Louis Pasteur einst trefflich ausgedrückt hat: es gibt gar keine angewandte Forschung, nur Forschung und Anwendungen der Forschung. Abkürzungen gibt es hier keine. Man denke an die Geschichte des Lasers, welcher 1917 von Albert Einstein theoretisch beschrieben wurde. Der erste funktionierende Rubinlaser wurde aber erst 1960 in Betrieb genommen, und zur breiten Marktanwendung gelangte die Lasertechnologie erst in den 1980er Jahren. Ähnlich lief es bei den Positronen, 1928 von Paul Dirac vorhergesagt, 1932 das erste Mal experimentell nachgewiesen. Den ersten PET-Scanner gab‘s dann in den 1970ern. Oder die Polymerase Chain Reaction, kurz PCR genannt, welche für SARS-CoV-2-Tests verwendet wird. Die geht auf eine Zufallsentdeckung zweier Mikroökologen in heißen Quellen des Yellowstone Parks in den 1960ern zurück: Thomas Brock und Hudson Freeze (kein Witz!) hatten die hitzeliebenden Bakterien beschrieben, die uns das Polymerase-Enyzm liefern, welches für das P in der PCR steht. Zur Anwendung in der Labortechnik kam die Methode aber erst ab den 1990er Jahren.

Eine Studie, die 2013 von William H. Press, dem damaligen Wissenschaftsberater Präsident Obamas verfasst wurde, präsentiert Analysen des Ökonomen Robert Solow, die sich mit der positiven Rückwirkung von Innovation, Technologie und Vermögen verschiedener Nationen befasst [1]. Solow kommt zu zwei wichtigen Schlüssen: Erstens ist die technologische Innovation längerfristig, über mehr als hundert Jahre, für rund 85 Prozent des Wirtschaftswachstums der USA verantwortlich. Zweitens sind heutzutage diejenigen Länder die reichsten, welche als erste eine starke Grundlagenforschung aufgebaut hatten.

Auf Solows Arbeit aufbauend argumentiert Press, dass die Grundlagenforschung zwingend und großzügig aus dem Fiskus finanziert werden sollte. Denn erstens ist es unmöglich, vorherzusagen, welche Entdeckungen zu technologischer Innovation führen. Zweitens dauert der Weg zur Anwendung manchmal Jahrzehnte, wie die obigen Beispiele zeigen. Und drittens haben Durchbrüche in der Grundlagenforschung eine niedrige „Appropiability“ – das heißt, das Geld aus der Anwendung strömt selten zum ursprünglichen Investor zurück. Man denke an asiatische CD- und DVD-Player, die mit Lasern aus amerikanischer Forschung enormen Profit abgeworfen haben, in Konkurrenz zu teureren amerikanischen Produkten. Dies also als ökonomisches Argument, weshalb öffentlich finanzierte Grundlagenforschung wichtiger ist denn je.

Effizenz oder Vielfalt?

Aber hier liegt genau das Problem: Grundlagenforschung funktioniert nicht einfach nach markt- oder betriebswirtschaftlichen Prinzipien. Dennoch haben wir ein akademisches Forschungssystem, welches je länger je mehr von solchen Prinzipien dominiert wird. Die Mathematiker Donald und Stuart Geman stellen fest, dass sich deshalb während des zwanzigsten Jahrhunderts der Schwerpunkt von wissenschaftlichen Durchbrüchen vom konzeptuellen in den technologischen Bereich verschoben hat: von der radikalen Veränderung unseres Weltbildes durch die Quanten- und Relativitätstheorie zur Sequenzierung des menschlichen Genoms, welche letztendlich erstaunlich wenig neue Einsichten in die menschliche Natur geliefert hat [2].

Es kommen hier natürlich mehrere komplexe historische Gründe zusammen. Aber einer von diesen ist sicher eine Veränderung im Anreizsystem für Forscher. Es hat sich hier eine Monokultur etabliert. Eine Monokultur der Effizienz und des buchhalterischen Denkens. Und diese führt zu einer Verarmung des intellektuellen Nährbodens der Forschung, obwohl heutzutage weit mehr Geld als früher für die Wissenschaft zur Verfügung steht. Ironischerweise würde dieses Geld mit weniger Effizienzdruck in der Forschung letztlich effizienter investiert sein.

Wer ständig produktiv sein muss, um voranzukommen, muss konstant beschäftigt erscheinen. Für theoretisch und philosophisch ausgerichtete Forschungsprojekte ist dies aus zwei Gründen fatal. Erstens, baut gute Theorie auf Kreativität auf und benötigt die dazugehörige Zeit, Inspiration und Muße. Zweitens, sind die wichtigsten intellektuellen Durchbrüche meistens ihrer Zeit weit voraus, fürs Erste ohne ersichtliche praktische Anwendung und überdies generell mit einem großen Risiko verbunden. Wer komplizierte Probleme angehen will, scheitert öfter. Oft werden Durchbrüche gemacht, jedoch lange gar nicht anerkannt.

Wenige nehmen sich heute noch genügend Zeit oder den Mut, solche gewagten Projekte anzugehen und durchzusetzen. Die Zeit der Romantiker ist vorbei. Pragmatismus ist angesagt. Wer heute akademischen Erfolg haben will, vor allem am Anfang der Karriere, der nimmt sich deshalb lösbare Probleme in etablierten Themenbereichen vor. Dies optimiert die persönliche Produktivität und die Karrierechancen, mindert jedoch die Vielfalt und Originalität des Denkens in der Forschung insgesamt – und verschwendet die besten Jahre junger origineller Denkerinnen und Denker. Originalität kann man leider nicht messen, Produktivität jedoch schon. Originalität führt oft zu wertvollen konzeptuellen Innovationen, Produktivität alleine leider selten.

Goodhart‘s Law, nach einem britischen Ökonomen benannt, besagt, dass ein Erfolgsmaß nicht länger nützlich ist, wenn es selbst zum Ziel wird. Dies geschieht im Moment in allen möglichen Gesellschaftsbereichen, wie höchst trefflich vom amerikanischen Historiker Jerry Z. Muller in seinem Buch „The Tyranny of Metrics“ beschrieben [3]. In der Wissenschaft führt dies zu vermehrten Selbstzitierungen, einer Flut von immer kürzeren Artikeln (sogenannten „Minimal Publishing Units“) mit immer mehr Autoren und mit immer mehr „Academic Clickbait“ – ein neudeutscher Begriff, der für sensationelle Titel in renommierten akademischen Magazinen steht, hinter denen jedoch je länger je weniger Substanz zum Vorschein kommt [4]. Kurz gesagt: erfolgreiche Wissenschaftler sind heutzutage deutlich stärker als früher mit ihrer öffentlichen Erscheinung und ihren Beziehungsnetzen beschäftigt, was nicht unbedingt zur Tiefgründigkeit der produzierten Einsichten und Theorien beiträgt.

Was daraus folgt, ist eine Art von karriereorientierter Selbstzensur. Wer Erfolg haben will, passt sich an. Nirgendwo (mit Ausnahme der Kunst vielleicht) ist dies so schädlich wie in der Grundlagenforschung. Es führt zu Seichtigkeit, zu Förderung von Narzissmus und Opportunismus, zu mehr Schein als Sein.

Ein Problem, welches von der Beschleunigung des Wissenschaftsbetriebs noch weiter verschärft wird. Niemand hat mehr Zeit oder Lust, schwierige Gedankengänge und Argumente nachzuvollziehen. Entweder passt es ins Denkschema, in den Zeitgeist, oder es wird bei der Begutachtung vorsichtshalber erst einmal abgelehnt. In den USA hat man zum Beispiel festgestellt, dass in der biomedizinischen Forschung meistens jene Projektanträge bevorzugt werden, die bereits früher Forschungsgelder eingeholt haben [5]. Mehr vom Selben also, statt dort zu forschen, wo es am vielversprechensten wäre. Und so wird die Monokultur weiter vereinheitlicht.

Vom industriellen zum ökologischen Modell für den Forschungsbetrieb

Wie lässt sich aus diesem Teufelskreis herauskommen? Es wird nicht einfach sein. Erstens sind diejenigen, die vom momentanen System profitieren, sehr mächtig und sehr mit sich selbst zufrieden. In der Tat kann man ja quantitativ aufzeigen, dass die Wissenschaft so produktiv ist wie noch nie. Dass Originalität – wie auch die Gesundheit von denjenigen im System, die in die Effizienzfalle geraten – dabei auf der Strecke bleiben, ist nicht direkt messbar, fällt also politisch nicht weiter ins Gewicht. Außerdem vermitteln uns pausenlose technologische Innovationen den Eindruck, als ob wir unsere Welt je länger je besser unter Kontrolle hätten. Es fühlt sich also an, als ob die Wissenschaft ihre gesellschaftliche Funktion voll und ganz erfüllt.

Leider ist dem nicht so. Was wir heute brauchen, um die wirklich existenziellen Probleme der Menschheit zu lösen, sind nicht mehr Fakten. Was wir heute brauchen, ist mehr Einsicht, mehr Weisheit. Und wie die Originalität lässt sich diese leider nicht messen.

Unterdessen werden jedoch verschiedentlich Risse in der Fassade sichtbar, die eine Veränderung unserer Einstellung nahelegen. Das bereits erwähnte menschliche Genomprojekt hat zwar viel gekostet, aber weder die versprochene Flut von Heilmitteln noch Einsichten in die menschliche Natur hervorgebracht. Noch viel weniger überzeugend ist das bisherige Abschneiden des „Human Brain Project“, welches eine Computersimulation der gesamten menschlichen Hirnrinde versprach. Für eine läppische Milliarde Euro. Daraus ist bis jetzt nicht viel geworden – was nicht verwundert, da niemals richtig klar war, welche Einsichten eine solche Simulation denn eigentlich bringen würde. Dies alles sind Anzeichen, dass das technologieverliebte und -fixierte System, das wir momentan haben, so langsam an seine Grenzen stößt.

Da das Problem der Wissenschaft die zunehmende intellektuelle Monokultur ist, bietet sich die Ökologie als Gedankenmodell und Inspiration für eine Reform an. Wie bereits am Anfang erwähnt, ist das heutige Modell der akademischen Forschung ein marktwirtschaftlich-industrielles. Wir wollen Kontrolle über die Welt, in der wir leben. Wir wollen messbare und effiziente Produktion. Wir fördern diese über marktwirtschaftliche Ideen wie das Wettbewerbsdenken. Wie in der industriellen Landwirtschaft und in realen Märkten sind die Schattenseiten dieses Produktivitätswahns Monokultur und Risikoaversion.

Was wir deshalb brauchen, ist eine ökologische Reform des Wissenschaftsbetriebs! Und zwar ziemlich buchstäblich. Wir benötigen ein Umdenken vom Paradigma der Kontrolle zu einem Modell der Partizipation. Jungforscher sollten vermehrt eingebunden, gefördert, zum Risiko und zur Eigenverantwortung ermuntert werden. Was wir anstreben, ist nicht maximale Produktion, sondern Tiefgründigkeit, Nachhaltigkeit, Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Resultate – sowie eine gesellschaftliche Relevanz, die mehr auf Einsicht als auf technologischen Wunderlösungen basiert.

Dazu braucht es ein offenes und partnerschaftliches Forschungssystem, welches die Diversität von Perspektiven und Ansätzen in der Wissenschaft fördert. Der Fokus muss vermehrt auf die Innovation gerichtet werden. Kurz gesagt, mehr nachhaltige Qualität statt kurzfristige Produktivität. Unsere wissenschaftspolitischen Probleme sind unseren gesellschaftlichen also leider sehr ähnlich.

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Foto: Pixabay; Montage: LJ

Schritte für eine ökologische Wissenschaftsreform

Wie soll dies denn alles praktisch aussehen? Ich nehme jetzt einmal an, dass ich hier vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anspreche. Deshalb werde ich mich auf Vorschläge konzentrieren, die sich ohne große Änderungen in der nationalen und internationalen Forschungspolitik durchsetzen lassen. Ich teile diese in vier weit gefasste Themenbereiche ein:

1. Good Research Practice:

Als Wissenschaftler klagt man gerne schnell über das System und wie sehr man doch darunter leidet. Oft geht dabei verloren, dass wir selbst zum System gehören! Viele Unannehmlichkeiten lassen sich über einfache Verhaltensänderungen in der eigenen Umgebung vermeiden. Viel könnte schon erreicht werden, wenn Argumente nicht ad hominem geführt, sondern als konstruktive Kritik formuliert und aufgenommen werden. Eine bessere Diskussionskultur also. Beim Begutachten wäre das besonders wichtig. Es ist heutzutage praktisch unmöglich, mit einer gewagten Idee, an Gutachtern vorbei zu kommen. Etwas mehr Vertrauen und Risikofreude wären wünschenswert, plus die Einsicht, dass ein Gutachten die Qualität des vorliegenden Projekts oder Artikels betrifft, und dieses nicht durch eigene (wahrscheinlich bessere) Ideen ersetzen sollte.

Positives Lob hört man im akademischen Umfeld sowieso viel zu selten. Auch das lässt sich im Prinzip einfach verändern. Kollaboration statt Konkurrenz kann ganz lokal in der eigenen Arbeitsgruppe oder Institution gefördert werden. Gleiches gilt für die Formulierung und Umsetzung von Transparenzregeln bezüglich des Teilens und der Qualitätskontrolle von Daten und Resultaten. Das Format von Seminaren, Vorträgen, Workshops und wissenschaftlichen Konferenzen könnte man auf den Gedankenaustausch statt auf öffentliches Imponiergehabe ausrichten – und auch so umsetzen. Jungforscherinnen und Jungforscher von Anfang an einzubeziehen und für voll zurechnungsfähig zu halten, sollte eigentlich auch vermehrt möglich sein. Es ist erstaunlich, welchen Unterschied eine offene, tolerante und inspirierende Umgebung machen kann. Ich habe dies in den letzten Jahren während meiner Wanderschaften durch verschiedene Forschungsinstitutionen mit unterschiedlichen Forschungskulturen ganz eindrücklich am eigenen Leib erfahren können.

2. Anreize:

Das eigentliche Hauptproblem des heutigen Wissenschaftsbetriebs ist, wie oben erwähnt, eine einseitige und widersinnige Ausrichtung der Anreize. Es geht nur noch um Produktivität. Auch da lässt sich einiges auf lokaler Ebene erreichen. Forscher sollten nicht nur nach Projektgeldern und Publikationen beurteilt werden. Lehre, Öffentlichkeitsarbeit und gemeinschaftsbildende Tätigkeiten müssen ebenfalls auf irgendeine Art und Weise offiziell Anerkennung gewinnen. Risiko und interdisziplinäre Ansätze müssten auch vermehrt belohnt werden. Und zwar so, dass sich dies nicht nur bei Einstellungen im eigenen Institut, sondern auch anderswo niederschlägt.

Grundsätzlich wäre eine verstärkte personenorientierte Förderung von Jungforscherinnen und Jungforschern wichtig. Diese müsste längerfristig ausgerichtet sein, die Unabhängigkeit früh fördern, und die Bürokratie auf ein Minimum reduzieren – beispielsweise indem nicht auf der genauen Ausführung des vorgeschlagenen Projektes bestanden würde, solange die wissenschaftliche Arbeit in einer interessanten Richtung fortschreitet. Weniger Buchhaltermentalität, mehr Entdeckergeist! Es wäre wichtig, das Potenzial von Kandidaten zu bewerten, nicht die Produktivität ihrer bisherigen Karriere (– was letztlich risikofreudige Entdeckerinnen und Entdecker benachteiligt). Generell sollte die stetige Produktion irgendwelcher Artikel kein Kriterium sein, sondern die Qualität der Ideen und geleisteten Arbeit. Und nicht zuletzt wäre es toll, wenn obsessives Zwangsverhalten und 60-Stunden-Wochen nicht mehr zu den Arbeitsidealen gewisser Gruppenleiter gehören würden. Forscherinnen und Forscher mit einem gesunden seelischen Gleichgewicht liefern längerfristig interessantere und solidere Resultate.

3. Ausbildung:

Eine Ausbildungsreform für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist dringend vonnöten. Die heutige höhere Ausbildung ist aufs Auswendiglernen und Reproduzieren von Fakten ausgerichtet. Allein daraus ist noch nie kreativer Forschergeist entstanden. Ein gewisses Grundwissen ist natürlich essenziell, jedoch nur als Mittel zum Zweck, welcher wiederum im Auffinden und Definieren von interessanten Forschungsfragen besteht. Die besten Forscher zeichnen sich durch originelle Ansätze und Denkweisen sowie interessante Fragestellungen aus. Dies lernt man besser durch eigenständiges, praxisorientiertes Lernen, das auf die Person zugepasst sein sollte. Sogenannte „Flipped-Classroom“-Techniken sind jedoch arbeits- und personalintensiv. Kombinationen von Online-Kursen und Betreuung vor Ort machen sie jedoch durchaus praktikabel. Was wir brauchen, sind reife Absolventen, Entdecker, die vom Unbekannten fasziniert sind und mit der Unsicherheit eines Forschungsprojekts leben können – und nicht hochgezüchtete Labortechniker, welche die Aufträge des Gruppenleiters minutiös und mit Höchsteinsatz umgehend umsetzen können. Diese Unterrichtsart wäre übrigens auch für diejenigen viel nützlicher, die am Ende nicht in der Forschung landen. Statt nutzloser Fakten würden auch sie sinnvolle Erfahrungen auf ihren weiteren Lebensweg mitnehmen.

4. Philosophie, Wissenschaft, Gesellschaft:

Zu guter Letzt finde ich es extrem wichtig, dass sich alle Forscherinnen und Forscher wieder vermehrt grundsätzlich hinterfragen sollten. Damit sie nicht nur über ihre persönliche Motivation in der Forschung im Klaren sind, sondern auch einen generellen Respekt vor der akademischen Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Rolle bewahren. Weshalb sind wir eigentlich da? Was ist der Zweck der Grundlagenforschung? Wie gewinnt man Erkenntnis? Was ist wissenschaftliches Wissen? Und in welcher Beziehung steht es zur Weisheit? Diese Diskussionen müssen ständig geführt werden. Philosophische Fragen gehören zurück in jeden wissenschaftlichen Lehrplan.

Die Gesellschaft braucht die Wissenschaft mehr denn je. Jedoch nicht das industrielle Modell. Der berühmte Soziobiologe Edward O. Wilson hat einmal gesagt: „Wir versinken in Fakten, während wir nach Weisheit hungern.“ Im selben Sinne brauchen wir nicht noch mehr hochqualifizierte Spezialisten, sondern mehr Denker und Entdecker, die sich um die Existenzfragen der Menschheit kümmern wollen. Mehr Geist in der quantitativen Wissenschaft, statt mehr Quantifizierung in den Geisteswissenschaften.

Schön wär‘s.

Referenzen

[1] William H. Press (2013) „What‘s so special about science (and how much should we spend on it?)“, Science 342, 817.

[2] Donald Geman & Stuart Geman (2016) „Science in the age of selfies“, Proc Natl Acad Sci U.S.A. 113, 9384–7.

[3] Jerry Z. Muller (2018) „The Tyranny of Metrics“, Princeton University Press, Princeton, NJ, USA.

[4] Michael Fire & Carlos Guestin (2019). „Over-optimization of academic publishing metrics: observing Goodhart‘s Law in action“, GigaScience 8: 1–20.

[5] Santo Fortunato et al. (2018). „Science of Science“, Science 359: eaao0185.



Zum Autor

Johannes Jäger war von 2015 bis 2017 Wissenschaftlicher Direktor des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung in Klosterneuburg bei Wien. Momentan gehört er als „Associate Faculty“ dem von mehreren österreichischen Forschungsinstitutionen getragenen Complexity Science Hub Vienna an.


Letzte Änderungen: 07.07.2020