Die vier Prinzipien wissenschaftlicher Kreativität

Von Itai Yanai, New York, und Martin Lercher, Düsseldorf


Editorial

(16.07.2021) Im Schatten der allseits bekannten „Tageswissenschaft“ existiert eine komplementäre „Nachtwissenschaft“ – die Sphäre wissenschaftlicher Kreativität, in der neue Ideen und Hypothesen geboren werden.

Würde man Sie mitten in der Nacht aufwecken und auffordern zu erklären, wie Wissenschaft funktioniert, dann könnten Sie die Antwort vermutlich mühelos herunterleiern: Wir haben eine Hypothese, damit machen wir Vorhersagen – und die testen wir; wenn die Ergebnisse den Vorhersagen dann widersprechen, verwerfen wir die Hypothese oder passen sie an. So haben wir das in Schule und Studium gelernt. Und das ist natürlich auch nicht falsch – nur erschreckend unvollständig. Denn letztlich ist die offizielle „wissenschaftliche Methode“ nur die halbe Wahrheit, nur die eine Seite des Yin und Yang, die gemeinsam in jedem Labor den Prozess der Wissenschaft ausmachen.

Über die verborgene Seite, das Yin, wird von Forschenden kaum je geredet – außer vielleicht einmal auf einer halben Seite der Memoiren. Und dennoch ist sie ebenso wichtig wie die Falsifizierung von Hypothesen durch Experimente. Was in der Selbstdarstellung der Wissenschaft dagegen fehlt, ist so offensichtlich, dass man tatsächlich nur schwer darauf kommt: Denn woher stammen letztlich die Hypothesen, die die wissenschaftlichen Heerscharen täglich testen?

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Illustr.: AdobeStock / fran_kie

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Eine beliebte Vorstellung ist, dass wissenschaftliche Hypothesen als unerklärlicher Geistesblitz schlicht vom Himmel fallen, ein Geschenk der Musen sozusagen – und in der Tat fällt in den Zuständigkeitsbereich der Muse Kalliope neben epischer Dichtung auch die Wissenschaft. Höhere Mächte für Unerklärbares verantwortlich zu machen, ist jedoch aus der Mode gekommen – und so bleibt die Frage nach der Herkunft neuer Ideen eine der faszinierendsten und am wenigsten erforschten Fragen zur Wissenschaft.

François Jacob, der 1965 für die Entschlüsselung der Genregulation in Bakterien den Medizin-Nobelpreis erhielt, beschrieb dieses Spannungsfeld in seiner Autobiographie folgendermaßen: Es gibt die „Tageswissenschaft“ (das Yang), wo Forschende das tun, was die offizielle wissenschaftliche Methode von ihnen erwartet – sie machen gezielte Experimente, um Hypothesen zu überprüfen, sie schreiben Artikel und halten Vorträge. In ihrem Schatten existiert jedoch die komplementäre „Nachtwissenschaft“ (das Yin), die Sphäre wissenschaftlicher Kreativität, in der neue Ideen und Hypothesen geboren werden.

In der Tageswissenschaft folgen wir einem geradlinigen Weg, hier regieren Logik und System. Nicht so in der Nachtwissenschaft. Nach François Jacob: „Die Nachtwissenschaft ist ein blindes Irren. Sie zögert, stolpert, stößt an, kommt ins Schwitzen, schreckt auf. An allem zweifelnd, sucht sie sich, befragt sich, setzt unaufhörlich neu an. Sie ist eine Art Werkstätte des Möglichen, in welcher der künftige Baustoff der Wissenschaft ausgearbeitet wird. In der die Hypothesen bloße Ahnungen, dunkle Vorgefühle bleiben.” [1]

Was wissen wir – was können wir überhaupt wissen – über diese verborgene, kreative Seite der Wissenschaft? Gibt es, ähnlich wie für die Tageswissenschaft, auch einen klar definierten Prozess für die wissenschaftliche Kreativität? Zumindest lassen sich vier Prinzipien wissenschaftlicher Kreativität herausarbeiten, über die ein Nachdenken lohnt: Der Antrieb von Forschung durch oftmals vage Fragen; die Bedeutung von Gesprächen für die Gedankenentwicklung; die unterschiedlichen Sprachen von Tages- und Nachtwissenschaft; und letztlich die Wichtigkeit eines Blickes über den Tellerrand, möge er auch dilettantisch sein.

1. Fragen statt Hypothesen

Das vielleicht größte Missverständnis über Wissenschaft ist, dass Forschende die Antworten auf Fragen suchen. In Wirklichkeit sind sie weit mehr damit beschäftigt, die richtigen Fragen zu finden. Schuld an diesem Missverständnis sind die Forschenden selbst, denn fast jeder wissenschaftliche Artikel formuliert bereits in der Einleitung eine fertige Frage oder Hypothese (die dann im Ergebnisteil überprüft wird). Die Fragen als gegeben darzustellen, ist zwar zutiefst irreführend – aber wissenschaftliche Artikel sind ja auch keine Chroniken. Kaum jemand schreibt, was man eigentlich ursprünglich überprüfen wollte, bevor man unerwartet auf das im Artikel beschriebene Phänomen stieß, und welche Experimente man versuchte, die sich am Ende als nutzlos erwiesen. Wir schreiben Artikel so, wie Menschen seit Jahrtausenden kommunizieren: Wir erzählen Geschichten. Der wahre Ursprung der Frage, die durch die Geschichte beantwortet wird, bleibt jedoch im Dunkeln vor der Geschichte.

Wirklich neue Fragen sind „unknown Unknowns“ – Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen. Entsprechend ist es kaum möglich, systematisch nach ihnen zu suchen. Ein weiterer Grund, warum die Suche nach Fragen kaum je im Vordergrund steht, ist, dass eine neue Frage oftmals so mächtig ist, dass sie unsere Realität transformiert. Sie radiert ihre eigene Herkunft aus – denn ist die Frage einmal präsent, können wir uns kaum noch vorstellen, wie es ohne sie war. Die Frage erscheint uns auf einmal selbstverständlich.

Fragen entwickeln sich im Zwiegespräch mit Daten. Meist erzeugen wir unsere Daten jedoch im Hinblick auf eine bestehende Hypothese. Allerdings geben die Daten uns gleichzeitig auch Hinweise auf neue Entdeckungen, neue Fragen, neue Hypothesen – sofern wir denn offen für sie sind. Denn Hypothesen entfesseln zwar zum einen die Macht der Tageswissenschaft, sie führen zu Vorhersagen, die im Labor überprüft werden können – aber sie können andererseits zugleich auch unsere Kreativität hemmen. Wenn Forschende mental auf eine Hypothese fixiert sind, sind sie weniger empfänglich für die Entdeckung von Neuem – die Hypothese wird zur Belastung.

Um diesen Entdeckungs-hemmenden Effekt von Hypothesen aufzuzeigen, führten wir selbst einmal ein kleines Experiment durch [2]. Studierende der Informatik bekamen als Hausaufgabe einen Datensatz, den sie analysieren sollten. Angeblich enthielt dieser für eine große Menge Personen Informationen zum Body-Mass-Index sowie zu der Zahl der Schritte, die dieselben Personen jeweils an einem bestimmten Tag gegangen waren. Ein Teil der Studierenden wurde lediglich gefragt, welche Schlussfolgerung sie aus den Daten ziehen könnten. Die übrigen Studierenden bekamen dieselbe Frage, dazu präsentierten wir ihnen allerdings auch drei konkrete Hypothesen. Als wichtigen Analyseschritt hätten beide Gruppen die Daten graphisch darstellen können. Das Ergebnis davon sieht man in der Abbildung: Die mutmaßlichen Daten zeigten einen winkenden Gorilla (siehe Abbildung unten). Studierende in der Hypothesen-freien Gruppe fanden diesen Gorilla mehr als doppelt so häufig wie Studierende, die durch die Beantwortung spezifischer Hypothesen anderweitig beschäftigt waren.

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Ohne ablenkende Hypothesen kamen mehr als doppelt so viele Studierende darauf, dass die graphische Darstellung der Daten das Bild eines winkenden Gorillas lieferte. Graphik: M. Lercher

Nachtwissenschaft ist eine Geisteshaltung. Wir beleuchten Daten aus so vielen Winkeln wie möglich, wir spielen mit ihnen, werden zu Forschungsreisenden in unkartiertem Gelände. In der Regel ist das keine leichte Aufgabe: An jedem Aussichtspunkt müssen wir das, was vor uns liegt, mit Bekanntem kontrastieren, um das Neue vom Erwarteten zu unterscheiden. Dafür brauchen wir nicht nur einen offenen Geist, wir brauchen auch ein solides Wissen über den Stand unseres Forschungsgebiets.

Und am besten reisen wir nicht allein ...

2. Denken reicht nicht – man muss auch darüber reden

Denn eines der mächtigsten Werkzeuge der Nachtwissenschaft ist das Reden. Jemandem von unseren Ideen und Daten zu erzählen, zwingt uns, unsere teils inkohärenten und unscharf formulierten Gedanken in eine lineare, logische Abfolge zu bringen. Allein dieser Prozess hilft uns dabei, unsere Gedanken zu sortieren. Kreativität ist vor allem dann gefragt, wenn wir in unserer Forschung auf Widersprüche stoßen – wenn die Daten dem Erwarteten widersprechen. Jemandem zu erklären, worin genau der Widerspruch besteht, hilft uns, Lücken in unserem Verständnis aufzudecken.

Gesprächspartner in diesem Sinne helfen uns als Resonanzboden, als „Sounding Board“ – und nicht selten ist das Reden und Erklären an sich wichtiger als die Reaktionen des Gegenübers. Der US-Evolutionsforscher Harmit Malik etwa erzählt im Night Science Podcast, wie er dabei die Tafel in seinem Büro verwendet. Während solcher Gespräche skizziert er darauf immer wieder neu das wissenschaftliche Problem, das er lösen will. Und mit seinem zunehmenden Verständnis evolviert die Skizze: „Oft stellt sich heraus, dass der Durchbruch dort liegt, wo ich Dinge für selbstverständlich hielt – an den Stellen der Skizze, die sich über Wochen und Monate am wenigsten verändert haben.”

Häufig sind Gespräche aber noch viel mehr als eine Gelegenheit, unsere eigenen Gedanken zu schärfen. Unser Gegenüber stellt vielleicht seinerseits unsere Annahmen in Frage, deckt Logikfehler auf oder hat Vorschläge für neue Denkrichtungen. Wenn wir Glück haben, finden wir sogar eine Person, die mit uns geistig-kreatives Pingpong spielt.

Auch wenn wissenschaftliche Diskussionen – etwa in Seminaren – oft in Gruppen stattfinden, entwickeln sich die kreativsten Gespräche typischerweise zwischen lediglich zwei Gesprächspartnern. Der Grund dafür mag in der Dynamik menschlicher Kommunikation liegen. Um kreativ zu sein, benötigen wir großes Vertrauen, welches in einer Gruppe schwerer herzustellen ist. Außerdem verführt die Dynamik einer Gruppe ihre Mitglieder leicht dazu, den Redebeiträgen dominanter Gruppenmitglieder zu folgen, was die Gedankenentwicklung stark einengt. Und schließlich ist es bei nur zwei Diskussionspartnern viel wahrscheinlicher, dass beide sich voll in der Diskussion engagieren – niemand fühlt sich außen vor gelassen.

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Illustr.: AdobeStock / fran_kie

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Ein kreativitätsförderndes Gespräch, bei dem es um mehr geht als um Resonanz und um den Zwang zur Strukturierung unserer eigenen Gedanken, ist eine Kunstform. Zentraler Faktor ist dabei ein offener Geist, denn im Augenblick ihrer Geburt ist eine Idee ein zerbrechliches Wesen, ein einziger kritischer Kommentar kann sie verstummen lassen. Auf der anderen Seite scheinen die meisten wirklich neuen Ideen auf den ersten Blick abwegig – weswegen eine positive und ermutigende Haltung des Gegenübers umso wichtiger ist.

Ein zentrales Grundthema des kreativen Gespräches ist die Improvisation. Um produktiv zu sein, folgen wir daher den gleichen Regeln wie Jazzmusiker oder Darstellende eines Improvisationstheaters: Man unterstützt sich, statt einander auszubremsen. Eine gute Übung ist es, jede Entgegnung mit „Ja, und ...“ zu beginnen – statt mit dem gerade in der Wissenschaft so verbreiteten „Hmm, aber ...“ (um gar nicht vom „Nein, Unsinn ...“ zu reden). Wenn unsere Kreativität nicht weiterkommt, hilft oft noch ein anderer Trick: Wir fordern unser Gegenüber ausdrücklich auf, ihre oder seine schlechteste Idee zum Thema zu formulieren. Es ist erstaunlich, wie befreiend das wirkt: Oft unterdrückt unsere unbewusste Selbstzensur die kreativsten und deshalb scheinbar absonderlichsten Ideen.

Befreiend kann aber auch eine bestimmte Sprechweise sein, die der Nachtwissenschaft vorbehalten ist ...

3. Die zwei Sprachen der Wissenschaft

Tatsächlich verfügt die Wissenschaft über eine zweite Sprache, die nicht unterrichtet und oft sogar unterdrückt wird. Die Sprache der Tageswissenschaft, in der wir Hypothesen testen und wissenschaftliche Artikel schreiben, ist präzise und schnörkellos – eine Sprechweise, die sich bereits Studierende aneignen müssen. Aber in der Nachtwissenschaft, wenn wir kreativ Probleme lösen und verborgenen Erkenntnissen auf der Spur sind, wird das Bestehen auf Präzision zu einem Hindernis. Die Sprache der Nachtwissenschaft ist vielmehr ein Raum für Metaphern und Analogien.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Anthropomorphismen – das Reden über unsere Studienobjekte, als wären sie aktiv handelnde Persönlichkeiten mit Intentionen und Zielen. Ein Teil unseres Gehirns wurde in der menschlichen Evolution dafür optimiert, schnell und intuitiv die Handlungen anderer Menschen zu analysieren – etwa um in Sekundenbruchteilen abzuschätzen, ob unser Gegenüber finstere Absichten haben könnte. Indem wir das Objekt unserer Wissenschaft in derselben Sprache beschreiben, können wir auf diese mächtigen, intuitiven Denkpotentiale zugreifen.

Eine Frage, die sich einer von uns beiden etwa immer wieder nach diesem Schema stellt, wenn er über verwirrende biologische Phänomene nachdenkt, lautet: „Warum würde die Zelle etwas so Dämliches machen?“ Und das womöglich berüchtigtste Beispiel für solch einen Anthropomorphismus ist das „egoistische Gen“ aus Richard Dawkins’ gleichnamigem Buch. Glaubt irgendwer ernsthaft, dass Gene egoistisch sein können? Kaum. Aber die anthropomorphische Sprechweise erzeugt ein mächtiges Bild, das uns hilft, die zentrale Rolle der Gene in der Evolution zu visualisieren.

Wichtig ist immer, dass wir in der Lage sind, unsere Gedanken in die Sprache der Tageswissenschaft zu übersetzen. Beim egoistischen Gen ist das deswegen schwierig, weil dieser Begriff ein ganzes Denkgebäude zusammenfasst. Jedes Gen kommt in verschiedenen Individuen in unterschiedlichen Varianten vor. Eine Variante verbreitet sich nicht unbedingt deswegen in einer Population, weil sie den Individuen nützt, die sie tragen – sondern genau dann, wenn sie sich selbst schneller verbreitet als die Alternativen. Ein Gen ist zum Beispiel auch dann erfolgreich, wenn es bei der Produktion von Samenzellen dafür sorgt, dass alle Samen absterben, die eine alternative Genvariante enthalten. Ein solches Verhalten würde man bei Menschen in der Tat egoistisch nennen. Und so hilft uns dieser Begriff dabei, schneller und gründlicher über die Konsequenzen des Gen-Egoismus nachzudenken.

Eine weitere Befreiung von den Hemmungen, die die klare Struktur der Tageswissenschaft unserer Kreativität auferlegt, kann gelingen durch das Motto: ...

4. Keine Angst vorm dilettantischen Blick über den Tellerrand

Unsere wissenschaftliche Kreativität würde sicherlich gefördert, wenn wir uns stärker vergegenwärtigten, dass die Trennlinien zwischen Spezialgebieten keine natürlichen Grenzen sind. Disziplinen, Arbeitsfelder, Fachbereiche sind historisch gewachsene, willkürliche Cluster von Wissen und Methoden. Eine strikte Verhaftung in einem dieser Cluster beschränkt unsere Kreativität, genau wie dies für die Fixierung einer Musikerin auf ein bestimmtes Genre gilt. Gäbe es gar keine Schubladen, dann fiele es uns leicht, außerhalb von Schubladen zu denken.

In der modernen Naturwissenschaft wird Interdisziplinarität oft so interpretiert, dass Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen Seite an Seite arbeiten. Aber wirkliche, kreative Interdisziplinarität ist mehr: Wir müssen über Fächergrenzen hinweg denken und diskutieren. Dazu dürfen und müssen wir nicht nur kompetent in unserer Kerndisziplin sein, sondern es hilft enorm, wenn wir uns gleichzeitig als Dilettanten im besten Sinne in anderen Gebieten engagieren.

Auch in einer interdisziplinären Kooperation muss irgendwann irgendwer eine Idee haben – und das wird häufig diejenige Person sein, die den besten Zugang zu verschiedenen Feldern hat. Diese simple Tatsache mag erklären, warum so viele wichtige Forschungspersönlichkeiten der Biologie ursprünglich in einem anderen Arbeitsgebiet ausgebildet wurden: Beispiele sind Max Delbrück, Mary-Claire King, Francis Crick. Aber auch interdisziplinär gemischte Arbeitsumgebungen helfen: Je unterschiedlicher die Forschenden sind, die in der Teeküche zusammenkommen, umso fruchtbarer die Diskussionen – das moderne Äquivalent des Kaffeehauses, in dem sich in vergangenen Jahrhunderten die Intellektuellen trafen.

Interdisziplinäre Kreativität kann in beide Richtungen laufen: Wir können Erkenntnisse, Modelle und Methoden importieren, indem wir Ideen aus anderen Disziplinen bei unserer Problemlösung verwenden; oder wir können Ideen, die in unserem eigenen Gebiet bereits etabliert sind, exportieren, indem wir sie auf offene Fragen in anderen Disziplinen anwenden. Klassische Beispiele für den Import von Ideen sind die von der Elektrotechnik inspirierte Identifikation von einfachen Mustern in Netzwerken der Genregulation oder die Anwendung der in den Wirtschaftswissenschaften entwickelten Spieltheorie auf Interaktionen zwischen Hefezellen. Exportbeispiele finden sich zudem etwa in der Verwendung vorzeitlicher DNA zur Erforschung der Menschheitsgeschichte – oder in der Anwendung von Darwins Evolutionstheorie, um die erfolgreiche Verbreitung von Ideen zu erklären (wofür Richard Dawkins den Begriff „Meme“ erfunden hat).

Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen dem Drang zur Interdisziplinarität und dem Verhaftetsein in der eigenen Disziplin. Für die meisten von uns ist der Erwerb von Wissen nicht unbegrenzt; je mehr wir über eine Nachbardisziplin wissen, umso weniger stecken wir in allen Details unseres „eigentlichen“ Arbeitsgebietes. Damit kann Interdisziplinarität bedauerlicherweise auch zu einem Karriererisiko werden: Wer zwischen den Disziplinen lebt, läuft Gefahr, von den Fachleuten jeder einzelnen Disziplin als Dilettant abgestempelt zu werden. Der häufig zu hörende Ruf nach Interdisziplinarität ist damit oft nur ein Lippenbekenntnis.

Holt Euch die Nacht zurück!

Kreativität benötigen wir nicht nur, um Entdeckungen zu machen und neue Hypothesen zu entwickeln. Regelmäßig stoßen wir in unserer Arbeit auf Hindernisse, Widersprüche und Fehlschläge, bei deren Bewältigung Kreativität vonnöten ist. Die Nacht ist überall eng mit dem Tag verwoben.

Die hier umrissenen vier Prinzipien der wissenschaftlichen Kreativität sind keine abschließende Umschreibung dessen, was die Nachtwissenschaft ausmacht. Womöglich ist eine solch abschließende Umschreibung sogar unmöglich – die kreative Seite der Wissenschaft ist schließlich weit individueller als ihre Kehrseite, die Tageswissenschaft. Allerdings können wir unsere Kreativität und vermutlich auch unsere Freude an der wissenschaftlichen Arbeit steigern, indem wir bewusst zwischen Tagesmodus und Nachtmodus hin und her wechseln, indem wir dazu die vier genannten Prinzipien anwenden – und indem wir überdies unsere eigenen Prinzipien entdecken und weiterentwickeln.



Referenzen

[1] François Jacob: “Die innere Statue – Autobiographie des Genbiologen und Nobelpreisträgers”, Ammann (1988)

[2] Itai Yanai & Martin Lercher: A hypothesis is a liability. Genome Biology 21: 231 (2020)



Zu den Autoren

Itai Yanai ist ein US-amerikanisch-israelischer Biochemiker und Gründungsdirektor des Institute for Computational Medicine an der Grossman School of Medicine der New York University, wo er überdies eine Professur im Department of Biochemistry and Molecular Pharmacology innehat.

Martin Lercher promovierte an der University of Cambridge in theoretischer Physik und ist heute Professor für Bioinformatik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.