Editorial

„I will break your fingers...“

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Jungforscherin

Freitagmorgen, 11:30 Uhr, Eingang des Biologiegebäudes. Ich versuchte mich zu orientieren: „Wie war das? Nach dem Empfang links, danach zu Fuß in den dritten Stock...“

Etwas später betrete ich ein geräumiges Labor, viel größer als unser eigenes. Aus einem Lautsprecher dröhnt Coldplay´s The Scientist, so dass Chris Martins Fistelstimme den Raum mit einer Atmosphäre tragischer Sehnsucht erfüllt. Irgendwie klingt es sorglos und passt damit zur Unordnung im Labor.

Im Gegensatz zu unserem Labor scheint hier jeder Mitarbeiter seinen eigenen Labortisch zu haben. Ich bin verblüfft! Die beiden Reihen einzelner Arbeitsplätze erscheinen mir als Triumph von durchdachtem Design und Schönheit – mit genug Raum, um zu atmen und sich zu konzentrieren.

An einem der Schränke über einem Labortisch hängt ein Blatt Papier: „I will break your fingers if you touch that!“, steht darauf. Pfeile weisen auf verschiedene Stellen auf dem Tisch.

„Wow, das ist aber ziemlich direkt“ bemerke ich.

„Ja, das ist es wirklich“, sagt ein kleiner, blonder Kerl und zuckt dabei mit den Schultern.

Am Ende des Raumes sehe ich dunkles, lockiges Haar über einem Tisch. Das muss Mike sein. Ich gehe auf ihn zu.

„So, hier arbeitest Du also“, stelle ich nicht ganz neidlos fest.

„Hey, Karin, ja. Alles meins!“, sagt er mit dem Stolz des kleinen Mannes, während er auf die 90 cm Tisch vor sich deutet. „Willst Du den Vektor gleich haben, oder sollen wir erstmal Mittagessen gehen?“, fragt er, während er mit seinen Fingern durch seine dicken Locken fährt.

„Lass uns erstmal essen gehen!“

„Lisa, Edward, kommt ihr auch mit?“ fragt Mike eine braunhaarige Frau und einen blonden Mann.

Beide stimmen zu und legen ihre Pipetten auf den Tisch. Wir geben uns die Hände zur Begrüßung, es ist entspannt und gesellig – irgendwie normal.

Wir gehen in das Büro. Mike hat das Privileg eines schönen, großen Schreibtisches, das Büro hat mindestens drei freie Plätze. Auf dem Tisch stehen zwei Plastikschalen mit je zehn kleinen Kakteen drin. In weiteren Diät-Margarinebechern sieht man gerade winzige Blätter durch die Erde stoßen – wahrscheinlich die nächste Kakteen-Generation. So etwas wäre in meinem Labor nicht möglich. Viel zu eng.

„Hey, Vlad, kommst Du auch mit zum Mittagessen?“, sagt Mike ins Büro hinein.

„Das ist der Typ, der das Hinweisschild im Labor geschrieben hat“, klärt Edward mich auf.

Als Vlad sich umdreht, meine ich, den leicht übergewichtigen, vollbärtigen Zwillingsbruder von Mr. Bean vor mir zu haben. Er sieht viel harmloser aus, als die Notiz vermuten lässt.

„Was sagst Du da über mich, Edward?“, fragt er mit einem osteuropäischen Akzent.

„Sie hat nur gefragt, wer die freundliche Nachricht über Deinem Labortisch geschrieben hat.“

„Leider ist das hier nötig. Aber manche Leute verstehen das leider immer noch nicht.“

Beim letzten Kommentar klopft Vlad auf den Rücken eines übergewichtigen Typen im Jogginganzug. Irgendwie sieht dieser Bursche hier fehl am Platz aus – viel zu groß für den niedrigen Schreibtisch und den einfachen Bürostuhl, auf dem er sitzt. Und seine Finger wirken zu dick für die Tastatur vor ihm.

„Ich habe ihm eine Anleitung ‚Zehn Benimmregeln beim Essen’ ausgedruckt, aber schaut ihn Euch an...“ Er greift die Schultern des armen Kerls und dreht ihn mitsamt seinem Stuhl zu mir um. „Trotzdem hängen immer noch überall auf seinem T-Shirt chinesische Nudeln!“

Ich werde still. Er behandelt seinen Kollegen wie ein Stück Fleisch, das wir begutachten. Mein Unwohlsein steigt noch, da sich das „Ausstellungsstück“ offenbar überhaupt nicht daran zu stören scheint.

„Der kapiert es einfach nicht“, sagt Vlad in schierer Verzweiflung, während er Stuhl und Kollegen wieder in die Ausgangsposition dreht.

„Das ist nicht sehr nett“, sage ich.

In betont freundlichem Ton erklärt mit Vladimir: „Weißt Du, was nicht nett ist? Ihm zuhören zu müssen, wie er neben meinen Ohren chinesische Nudeln schlürft. Die er mit den Händen isst. Hast Du schon mal die Konsistenz von chinesischen Instant-Nudelsuppen gesehen? Man kann sie schlicht und ergreifend nicht mit den Händen essen, wie man ja an seinem T-Shirt sehen kann.“

Ich muss zugeben, dass es ekelerregend klingt

„Lasst uns gehen“, sagt Mike und schiebt mich unauffällig in Richtung Tür, um einen Streit zu vermeiden.

Am Aufzug jedoch legt Vlad wieder los: „Ich war schon dreimal beim Chef, um zu fragen, wo er den schon wieder aufgetrieben hat. Das letzte Mal habe ich ihn gefragt, ob er seine Doktoranden seit Neuestem im Zoo rekrutiert“.

„Arbeitet er wenigstens gut?“, frage ich ihn, weil ich mir den armen Kerl gut als den klassisch exzentrischen Wissenschaftler vorstellen kann.

Vladimir lacht, als ob ich ihn gerade gefragt hätte, ob Dieter Bohlen den Nobelpreis gewonnen hat.

„Er kann nicht mal eine Pipette in der Hand halten. Ich muss ihm alles zehnmal zeigen und er rafft es immer noch nicht.“

„Aber er hat einen Abschluss, oder?“

„Ja, weiß Gott woher. Vielleicht hat er den gestohlen.“

„Das könnte man bei deinem Verhalten allerdings auch gut denken“, antworte ich ruhig. Und füge hinzu: „Irgendwie scheint unsere vermeintliche Gelehrtenwelt geradezu ein Sammelbecken für besonders ausgefallene Exemplare zu sein.“



Letzte Änderungen: 04.07.2018