Editorial

„Rede mit niemandem!“

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Jungforscherin

Zweimal wird das Flugzeug durchgeschüttelt, bevor wir Bekanntschaft mit der Landebahn machen. Wir rollen kurz aus, bis wir vor dem Flughafengebäude Halt machen, das nicht viel größer ist als eine Scheune. „Aeroporto Marco Polo Di Venezia.“ Es sieht trostlos aus; nur einige Männer in orangen Warnwesten fahren Gepäck durch den Regen, während der Windsack einen mittleren Sturm anzeigt.

Hektisch stopft sich mein Chef James einen Stapel Artikel in seine Reisetasche. Er kann es scheinbar nicht erwarten, aus dem Flugzeug zu kommen.

Wir gehen direkt zum Taxistand. Ein kurzer, bierbäuchiger Mann in einem farbig gestreiften T-Shirt lässt seine Zigarette auf den Gehsteig fallen. Mit seinen billigen Kunstleder-Slippern tritt er sie aus und öffnet die Türe seines kleinen Busses für uns. Bislang war die Szene unverfänglich, fast verträumt; doch plötzlich stößt James aus dem Nichts heraus eine angespannte und bizarre Warnung aus: „Rede mit niemandem über deine Forschung! Deine Daten sind hier nicht sicher.“

Ich bin verwirrt. Sind wir nicht zwei Generationen von Wissenschaftlern – Doktorandin und Professor –, die gemeinsam zu einer Konferenz fahren, um andere Forscher aus der ganzen Welt zu treffen, die genau an demselben Superbug arbeiten wie wir? An einer Bakterie, die sich von Penicillin ernähren kann; die Kinderärzte veranlasst, Geschwister zu trennen; einem Bakterium, das tötet – und das deswegen doch irgendwie bedeutender sein sollte als kleinkarierte akademische Rivalitäten. Oder etwa nicht? Sind wir nicht genau deswegen zu diesem Meeting gefahren, um unser Know-how zu teilen, um zu diskutieren und gemeinsam an Abwehr und Therapie zu arbeiten?

Offensichtlich nicht. James‘ Warnung, vermischt mit dem italienischen Radio im Hintergrund, verändert meine schlichte Wahrnehmung vollkommen. Die Szene erscheint plötzlich wie ein Teil von „Der Pate“. Wir sind unterwegs zum Hauptquartier unserer Erzfeinde...

Der Vorlesungssaal der Konferenz ist mit etwa siebzig Wissenschaftlern gefüllt. Viele scheinen sich bereits zu kennen. Sie arbeiten in verschiedenen Ländern und an unterschiedlichen Einrichtungen, aber schon seit Jahren an demselben Thema.

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Die meisten, wenn nicht gar alle, scheinen James zu kennen. Er hat den Status eines Gurus hier, hat er doch schon seine gesamte Karriere lang an dieser einen Krankheit gearbeitet. Offiziell wird er bald pensioniert. Da er aber mit der Wissenschaft verheiratet ist, wird er wohl niemals wirklich in Ruhestand gehen. Er wird sein Büro behalten, mit dem Mikroskop und den knorrigen Pflanzen, bis Tod oder Krankheit sie trennen.

Doch so weit ist es noch nicht. Hier und jetzt eröffnet James die Konferenz erstmal mit einer Keynote Lecture. Die folgenden Sprecher präsentieren dann durchweg Arbeiten, die bereits publiziert sind. Ich kannte sie alle schon. Auf jede Präsentation folgt eine kurze Diskussion – doch die Fragen sind seltsam flach, nie wird die Perspektive des Themas wirklich erweitert. Während des vierten Vortrags flüstere ich zu dem jungen Mann neben mir:

„Die zeigen ja nur Dinge, die bereits publiziert sind.“

„Ja.“

„Was bringt das?“

„Auf einer Konferenz ist das Risiko einfach zu hoch. Du kannst nichts präsentieren, was noch nicht publiziert wurde.“

„Welches Risiko denn?“

„Der Wettbewerb in diesem Raum ist heftig. Wir arbeiten alle an demselben Thema. Es wäre viel zu einfach, sich gegenseitig Ergebnisse zu stehlen.“

„Aber sollten wir denn nicht miteinander anstatt gegeneinander arbeiten?“

Er muss wegen meiner offensichtlichen Naivität glucksen und raunt mir dann zu: „In einer idealen Welt, ja. Aber das ist die schnöde Realität. Wir müssen und wollen alle gerne die Ersten sein, die etwas entdecken. In der Wissenschaft gibt es keine zweiten Plätze. Entweder gewinnst du, oder du verlierst.“

„Wozu sind wir dann überhaupt hier?“ frage ich ihn.

Nach einer kurzen Pause sagt er: „Wir trinken ein Bier miteinander, und manchmal arbeiten wir auch an Projekten zusammen.“

Er streckt mir seine Hand entgegen, ich schüttle sie kurz. „Ich heiße übrigens Marco Julienne.“

„Dann arbeitest Du bei Wittburg in Vancouver? Wir hatten bereits Mail-Kontakt wegen eines Plasmids. Erinnerst Du Dich?“

„Natürlich erinnere ich mich!”

„Was für ein Zufall! Wie geht’s mit der Forschung? Hast Du die Arbeit mit dem Plasmid hinbekommen?”

„Ja, das Plasmid funktioniert. Ich komme voran.“

„Und macht ihr auch mit dem Acetylase-Projekt weiter?“

Er nickt. Ein wenig unsicher schaut er wieder in Richtung der Präsentation, als wolle er die Unterhaltung unterbrechen.

„Habt ihr es gereinigt bekommen?”

Er dreht seinen Kopf zu mir. Seine Augen bewegen sich auf und nieder, während er langsam ausatmet. „Sorry, ich würde mich liebend gerne mit dir unterhalten, doch ich darf hier nicht über meine unpublizierten Daten sprechen.“

Und plötzlich wird mir endgültig klar: Das hier hat nichts mit einer Gruppe schlauer Experten aus aller Welt zu tun, die gemeinsam ein Problem angehen wollen. Stattdessen halten wir unsere Daten vor den anderen geheim, bis wir sie publizieren. Wir kämpfen alle unsere eigenen Kämpfe in den langen und einsamen Stunden im Labor – und suchen zugleich verzweifelt nach etwas Anerkennung von unseren Forscherkollegen.



Letzte Änderungen: 04.07.2018