Editorial

„Das Verständnis aller Bürger für Wissenschaft ist der Schlüssel“

Das Interview führte Henrik Müller


(13.09.2021) Die Kölner Entwicklungsgenetikerin Maria Leptin ist die erste weibliche Direktorin der European Molecular Biology Organization (EMBO). Ab Oktober 2021 wird sie für vier Jahre das Präsidentschaftsamt des Europäischen Forschungsrats (ERC) übernehmen. Laborjournal sprach mit ihr über Forschungsförderung auch nach der Corona-Pandemie.

Laborjournal: Die Europäische Kommission ernannte mit Ihnen eine renommierte Biologin und Immunologin zur ERC-Präsidentin. Ist das Ausdruck einer Erkenntnis in Zeiten globaler Pandemien?

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Foto: MedizinFotoKöln/Michael Wodak

Maria Leptin » Ich weiß nicht, was die EU-Kommissare bewegt hat. Ich selbst habe da nichts reininterpretiert. Aus den drei ERC-Bereichen Lebenswissenschaften, Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie Sozial- und Geisteswissenschaften wechseln sich die Direktoren regelmäßig ab. Es gab ja schon vor mir einen Biologen als ERC-Präsident.

Warum wollten Sie die Stelle?

Leptin » Weil es ein super interessanter Job in einer fantastischen Organisation ist. Grundlagenforschung nicht nur in den Lebenswissenschaften, sondern insgesamt unterstützen zu dürfen, finde ich irre spannend. Beispielsweise werden die Geisteswissenschaften in Deutschland noch einigermaßen gefördert. In manchen anderen Ländern ist das nicht so. Dabei ist es wichtig, vernachlässigte Bereiche und die Zusammenarbeit aller Disziplinen zu fördern.

Wo werden Sie in der ERC-Agenda Ihre Schwerpunkte setzen?

Leptin » Dessen Förderaufgaben sind ja völlig klar festgelegt. In fünf Stipendienlinien fördert der ERC themenoffen Einzelforschende und ihre Teams in der Grundlagen- und Pionierforschung in allen Forschungsbereichen. Damit stimme ich voll überein. Mein erstes von zwei Hauptvorhaben wird es sein, für Stabilität und Expansion zu sorgen. In meiner Funktion als Vorsitzende des ERC-Auswahlgremiums für Advanced und Synergy Grants habe ich so viele fantastische Anträge gesehen, die nicht gefördert werden konnten. Das ist ein Jammer! Deshalb will ich darauf hinarbeiten, das ERC-Budget zu erhöhen.

Und Ihr zweites Hauptvorhaben?

Leptin » Das Verständnis für Grundlagenforschung zu fördern. Alle Bürger in Europa müssen verstehen, wie entscheidend intensive Forschungsförderung für unser aller Zukunft ist.

Mit welchen konkreten Ideen möchten Sie die Wissenschaftskommunikation verbessern?

Leptin » Ich werde beim ERC sicher nicht von außen kommend behaupten, ich wüsste es besser, sondern werde mit den bisherigen ERC-Verantwortlichen gemeinsam nach Lücken und Wegen suchen. Wichtig wird es sein, die Bürger aller Mitgliedsstaaten direkt zu erreichen. Über das ERC-Budget entscheidet letztendlich das europäische Parlament, das auf seine Bürger und Politiker zu Hause hören muss. Das Verständnis aller Bürger für Wissenschaft ist der Schlüssel. Das müssen wir fördern.

Durch das Coronavirus wird Wissenschaft ja so umfangreich wie vielleicht nie zuvor öffentlich diskutiert...

Leptin » Ja, das ist vielleicht die einzig gute Seite der Pandemie. Wie wichtig Grundlagenforschung ist, zeigt ja zum Beispiel die mRNA-Immuntherapie von BioNTech. Unternehmensgründer Ugur Sahin erhielt 2018 eine ERC-Förderung von 2,5 Millionen Euro. Dass es Grundlagenforschung und nicht gezielte Forschung ist, die uns in der Pandemie hilft, haben mittlerweile viele Politiker verstanden.

Die EU erklärte bereits 2002 als Teil der Lissabon-Strategie, drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Bildung ausgeben zu wollen. Selbst zwanzig Jahre später liegt der EU-Durchschnitt nur bei 2,2 Prozent. Länder wie Südkorea, Japan oder die USA sind uns mit 4,5 Prozent, 3,3 Prozent und 2,8 Prozent in ihrem Wissenschaftsverständnis weit voraus. Warum hinkt Europa hinterher?

Leptin » Genau darauf weist der gegenwärtige ERC-Interimspräsident Jean-Pierre Bourguignon heute am 19. Juli auf einer Tagung in Ljubljana zur Erneuerung des Europäischen Forschungsraums hin. Wir können es uns nicht leisten, in der Forschungsförderung hinten anzustehen. Europa hat schließlich ausreichend finanzielle Mittel. Da muss etwas geschehen.

Das weiß die Wissenschaftsgemeinde seit Jahrzehnten. Warum folgen keine Taten?

Leptin » Ich bin kein Politiker. Bei EMBO konnte ich Politiker überzeugen, uns stärker zu fördern. Aber bei EMBO sind es natürlich minimale Summen, die wir im Vergleich zum 16 Milliarden Budget von Horizont Europa brauchen.

Wie haben Sie bei EMBO Politiker überzeugt? Was davon können Sie auf Ihren Job im ERC übertragen?

Leptin » Es war notwendig, zu verstehen, dass unterschiedliche Länder unterschiedliche Bedürfnisse haben, denen nur unterschiedliche Maßnahmen gerecht werden. Alle Seiten müssen einsehen, dass sie nur durch Kompromisse an anderer Stelle etwas erhalten. Ich helfe weiterhin gern denen, die woanders nichts kriegen – ohne dabei die zentralen Konzepte der Exzellenz und des Bottom-up-Ansatzes aufzugeben.

Worin sehen Sie in der EU-Förderung der Biowissenschaften die größten Zukunftsthemen?

Leptin » Darum brauche ich mich weder als EMBO-Direktorin noch als ERC-Präsidentin kümmern. Bei beiden Organisationen bestimmt ja die Forschungsgemeinde selbst, wo es hingeht. Die besten Themen der besten Forschenden werden gefördert. Für eine einzelne Person ist es schließlich schlichtweg unmöglich, einen Überblick über alle biowissenschaftlichen Themen zu haben. Entsprechend falsch wäre es, wenn einzelne Personen Entscheidungen von oben herab träfen.

Die Rolle des ERC-Präsidenten scheint Ihr Vorgänger, der Nanomediziner Mauro Ferrari, anders interpretiert zu haben. Nach nur drei Monaten Amtszeit war er ja im April 2020 im Streit zurückgetreten, nachdem der ERC sein Vorhaben nicht unterstützte, COVID-19 zu erforschen.

Leptin » Sein Vorhaben war sicher ehrenwert und gut gemeint. Aber natürlich passte es überhaupt nicht zum ERC-Konzept, Spitzenforschung themenunabhängig zu fördern.

Wie beeinflusst die Corona-Pandemie das ERC-Budget der nächsten Jahre?

Leptin » Sie wird die Verteilungsschlüssel sicher nicht zugunsten der Lebenswissenschaften beeinflussen. Denn das wäre kontraindiziert. Was wird die nächste Krise sein? Keine Ahnung, ich bin keine Weissagerin. Aktuell haben wir massenhaft Überschwemmungen und Ingenieurs- sowie Klimawissenschaften rücken in den Brennpunkt. Etwas dann erst zu fördern, wenn das Unheil da ist, ist zu spät. Förderung muss breit gestreut sein. Die besten Leute müssen überall gleichzeitig grundlegende Prinzipien herausfinden.

Welche Forschung finden Sie persönlich am spannendsten?

Leptin » In den Lebenswissenschaften zum einen die Ökologie, denn da haben wir endlich ausgereifte Methoden, und zum anderen die Neurobiologie, weil wir da längst nicht alles verstehen. Aber ob das jetzt die förderungswertesten sind, dazu brauche ich keine Meinung haben. Dafür hat der ERC Experten.

Welche Lehren muss Europa hinsichtlich seiner Forschungsstrukturen aus der Krise ziehen?

Leptin » Natürlich Forschung intensiver zu fördern! Aber ich möchte völlig klar sagen: Wir reden während der Pandemie immer so, als sei es alleiniger Zweck von Forschung, Lösungen für Krisensituationen zu finden. Darüber dürfen wir aber nicht grundlegende Wissenschaftsaspekte vergessen wie Neugier und kulturelles Interesse am Wissen. Wir müssen neben lösungsorientierten Ansätzen zum Beispiel auch die Philosophie und Archäologie fördern. In einer Krisensituation helfen sie vielleicht nicht direkt. Aber sie vertiefen unser Verständnis, wie Kultur und Gesellschaft funktionieren, was langfristig Krisen vermeidet oder abmildert.

Ohne ein greifbares Produkt als Forschungsziel stimmen Ihnen da vielleicht nicht alle Menschen zu...

Leptin » Ja, aber es ist gefährlich, nur auf unmittelbaren Nutzen zu schauen. Es ist wichtig, unserer Bevölkerung zu kommunizieren, dass es mehr gibt, als nur gesund zu sein und ein bequemes Leben zu führen. Natürlich existieren in Europa noch viele Ungleichheiten, die korrigiert werden müssen. Aber insgesamt sind wir ja kein armer Kontinent, weshalb wir uns umfangreiche Forschungsförderung leisten können – im Interesse aller!

Apropos Ungleichheiten: 1999 wurden Sie in der ZEIT als Beispiel dafür interviewt, wie schwer es Frauen in der akademischen Forschung haben. Welche gesellschaftlichen Fortschritte sehen Sie seitdem?

Leptin » Die sind natürlich von Land zu Land verschieden. Laut meinem Freundeskreis scheint es etwa in Österreich und Deutschland noch schwierig zu sein, Kind und Karriere zu vereinen, während das in Frankreich und Portugal völlig normal ist. Geschlechterungleichheit liegt heutzutage nicht mehr primär daran, dass es an bestimmten Strukturen in der Wissenschaft mangelt, sondern an den Erwartungen der Gesellschaft an Frauen. Ich kenne selbst viele supergute Frauen, die auf Druck ihrer Schwiegereltern oder ihres Freundeskreises aus der Wissenschaft ausgestiegen sind. Zwar wächst der Frauenanteil kontinuierlich, aber an vielen Orten ändern sich die Ansprüche an Frauen viel zu langsam.

Deutschland hat EU-weit den drittniedrigsten Frauenanteil in der Forschung. Die hiesige Frauenquote stieg im letzten Jahrzehnt von 25 Prozent auf nur 28 Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei 33 Prozent. Länder wie Lettland mit 52 Prozent und Bulgarien mit 47 Prozent sind Deutschland da um Jahrzehnte voraus. Inwieweit können und werden Sie als Forschungsfunktionärin beim ERC darauf Einfluss nehmen?

Leptin » Gäbe es eine Patentlösung, wäre sie schon eingeführt. Natürlich könnte ich mich für eine Quote einsetzen. Ich weiß aber weder, ob das politisch machbar wäre, noch, ob es die Forschungsqualität steigerte. Einstellungsentscheidungen dürfen einzig auf Basis der Qualität von Bewerbern getroffen werden.

Wichtiger finde ich, in Einzelsituationen zu ermutigen und Möglichkeiten zu schaffen. Ein erstklassiges Beispiel dafür ist die Nüsslein-Volhard-Stiftung, die unter anderem Mini-Stipendien an Frauen mit Kindern vergibt, damit sie zum Beispiel einen Führerschein machen können oder im Haushalt Unterstützung erhalten. Eine Stipendiatin berichtete uns im Nachhinein, wie entscheidend die Förderung für sie war – nicht wegen der vierhundert Euro mehr im Monat, sondern weil die Schwiegermutter aufhörte, über das Familienverständnis ihrer Schwiegertochter zu meckern. Eine Nobelpreisträgerin wie Christiane Nüsslein-Volhard hatte die Stipendiatin für ihre Arbeit anerkannt. Gegen gesellschaftlichen Druck brauchte sie von da an nicht mehr anzukämpfen. Eine Frauenquote hätte da nicht geholfen.

Wie haben Sie Ihre eigenen Enttäuschungen und Zweifel überwunden, nicht gut genug für eine wissenschaftliche Karriere zu sein?

Leptin » Indem ich einfach weitermachte. Ich habe mehrfach überlegt, auszusteigen. Aber letztendlich erhielt ich Geld für das, was mir Spaß macht. Klar, hätte ich mit Mitte vierzig keinen Grant mehr eingeworben, wäre eine aktive Wissenschaftskarriere schwierig geworden. Aber auch dann hätte es ja so viele spannende Alternativen gegeben zum Beispiel in der universitären Lehre.

Wann und durch wen erhielten Sie die wertvollste Unterstützung?

Leptin » Zum Teil durch Christiane Nüsslein-Volhard, als sie mir und meiner Kollegin Sigrun Korsching vor 25 Jahren in Tübingen half, eine Kinderkrippe am Max-Planck-Institut aufzubauen. Ohne diese Betreuung für meinen Sohn hätte ich nicht weitermachen können. Natürlich muss ich aber meinem Mann an erster Stelle danken. Denn es war immer klar, dass wir uns gegenseitig unterstützen, er sich auch als damaliger Direktor des Department of Immunology am Babraham Institute Cambridge Auszeiten nimmt und wir uns beide um die Kinder kümmern.

Forschung und Familie zu vereinen, war also das größte Hindernis in Ihrer akademischen Karriere?

Leptin » Hindernisse habe ich nie gesehen; eher meine eigene Beschränktheit zum Beispiel bei den Fragen, welche Projekte am besten verfolgt und wie Entdeckungen richtig eingeschätzt werden sollen. Familie war immer eine Bereicherung.

Worauf sollten Jungwissenschaftler also achten?

Leptin » Nicht zu viele Leute einzustellen. Junge Gruppenleiter brauchen sich nicht durch ein möglichst großes Labor beweisen. Das ist am Anfang das Dümmste, was man machen kann. Wichtiger ist es, sich bei der Projektauswahl die großen Fragen im eigenen Feld zu überlegen und in deren Richtung zu forschen. Ebenso entscheidend ist es, möglichst viel mit Kollegen zu reden und ihren Rat anzunehmen.

Wie viel Zeit wird Ihnen in den kommenden Jahren für Ihre eigene Forschung bleiben?

Leptin » Keine, denn es geht ja nicht nur um Zeit, sondern auch um Geld. Würden Sie mir als DFG-Gutachter glauben, dass ich neben meinem Job als ERC-Präsidentin noch dreißig Prozent meiner Zeit im Labor in Köln verbringe? Die Verträge meiner Leute laufen in den nächsten 18 Monaten aus. Neue Projekte fange ich nicht an.

Und nach dem ERC?

Leptin » Ich habe nie mehr als zwei, drei Jahre vorausgedacht oder Karriere geplant. Fragen Sie in vier Jahren...

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Maria Leptin kehrt der Forschung den Rücken, um sich in den nächsten Jahren voll und ganz auf ihren Job als ERC-Präsidentin fokussieren zu können. Foto: Adobe Stock/Vivi