Editorial

Geniestreich kombiniert mit Gedankenblitz

Andrea Pitzschke


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Mit Heinrich Schnitgers Prototyp als Vorlage konstruierte die Werkstatt des Instituts für Physiologische Chemie der Universität Marburg ab 1957 Kopien von Schnitgers Mikropipette. Die Firma Netheler und Hinz, die ab 1962 unter dem Namen Eppendorf firmierte, entwickelte diese weiter (mittleres und unteres Modell) und brachte 1961 mit der Marburg-Pipette schließlich die erste kommerzielle Mikropipette auf den Markt. Foto: Martin Klingenberg

(12.10.2021) In Laboren rund um die Welt wird sie liebevoll gedrückt. Jetzt feiert sie ihren Sechzigsten – die Mikropipette. Zu verdanken haben wir sie dem Erfindergeist eines schrägen Genies, der Weitsicht von drei Firmengründern sowie der sicheren Spürnase einer multiplen Persönlichkeit.

Schon im 18. Jahrhundert gab es Pasteur-Pipetten in Form von Glasröhrchen mit aufgestecktem Sauger aus Gummi. Sie sind zwar auch heute noch ungemein praktisch, beispielsweise um den pH-Wert tröpfchenweise einzustellen, für kleine und vor allem definierte Probenvolumen oder Messungen sind sie aber ziemlich ungeeignet. Verdrängt wurden Pasteur- und andere einfache Glaspipetten von der Mikropipette, deren Geschichte in Marburg begann.

Eine authentische Beschreibung zur Evolution der Mikropipette findet man in einem Rückblick von Martin Klingenberger aus dem Jahr 2005 (EMBO Rep 6: 797-800). Der Biochemiker und ehemalige Lehrstuhlinhaber für Physikalische Biochemie am Institut für Physiologische Biochemie der Ludwig-Maximilians-Universität in München erzählt darin, wie er die Entwicklung der Mikropipette an der Universität Marburg hautnah miterlebte.

Klingenberg musste 1954 als Postdoc in Philadelphia noch selbstgefertigte Carlsberg-Pipetten verwenden, die Kaj Ulrik Linderstrøm-Lang und Milton Levy 1936 am Carlsberg Laboratorium in Kopenhagen etabliert hatten. Um eine Carlsberg-Pipette oder Lang-Levy-Pipette herzustellen, erhitzt man ein Glasröhrchen über dem Bunsenbrenner und zieht das heiße Glas zu einer Kapillare in die Länge. Ein paar Millimeter vor dem Ende wird nochmals erhitzt, um eine Verengung zu erzeugen.

Mühsames Prozedere

Diese Prozedur erfordert viel Handarbeit, und da jedes Exemplar ein Unikat ist, muss die Pipette individuell kalibriert werden. Das gewünschte Flüssigkeitsvolumen wurde mit dem Mund in die Carlsberg-Pipette aufgezogen, geeicht wurde gravimetrisch, mit farbigen Flüssigkeiten oder auch schon mal mit flüssigem Quecksilber. Unvorsichtige oder weniger routinierte Labormitarbeiter bekamen die Eichflüssigkeit, Gift- oder Bakterienlösungen oder was sie sonst so pipettierten hin und wieder in den Mund. Diesen Kick umging man mit Einweg-Glasröhrchen, die sich beim Eintauchen in eine Flüssigkeit dank Kapillarkraft von selbst bis zum gewünschten Pegelstand füllten. Aber auch diese verstopften leicht und zerbrachen ständig.

1957 kam Klingenberg an die Universität Marburg und stieß im Labor auf den 32-jährigen Heinrich Schnitger, der dort Medizin studierte – „um sich nicht länger inkompetenten Ärzten anvertrauen zu müssen“. Das Vertrauen in die Ärzteschaft muss Schnitger während seiner Tuberkulose-Erkrankung im Zweiten Weltkrieg abhanden gekommen sein.

Schnitger sollte hunderte Fraktionen aus einer Nukleotid-Chromatografie photometrisch vermessen. Sein Laborkollege Hanns Schmitz hatte die Trennmethode gerade von einem Forschungsaufenthalt in den USA mitgebracht (Marburger UniJournal 21: 58-60). Die vielen Proben mühselig mit der Mundpipette aufzusaugen, war aber gar nicht Schnitgers Ding. Sollte der Kollege doch damit weitermachen. Er selbst ließ die Arbeit erst einmal liegen und kehrte nach einer Auszeit und intensiver Tüftelei mit einer völlig neuen Pipetten-Konstruktion ins Labor zurück. Für seine Kolbenhub-Pipette hatte Schnitger eine Feder in eine gläserne Tuberkulin-Spritze eingebaut, die das aufgezogene Volumen auf eine definierte Menge begrenzte. Statt der Spritzennadel verwendete er eine aufsetzbare Spitze. Das Prinzip war dasselbe wie in heutigen Luftverdränger-Pipetten: Der Kolben verdrängte beim Drücken auf den Spritzenkopf Luft, wodurch im Inneren ein Vakuum entstand. Löste man den Druck, wanderte der Spritzenkopf wieder nach oben und anstelle der verdrängten Luft stieg die Flüssigkeit in die Spitze.

In der mechanischen Werkstatt des Physiologisch-Chemischen Instituts der Universität Marburg entstanden bald die ersten Prototypen. Im Mai 1957 reichte Schnitger ein Patent beim Deutschen Patentamt ein, für eine „Vorrichtung zum schnellen und exakten Pipettieren kleiner Flüssigkeitsmengen“. 1961 wurde das Patent erteilt.

Inzwischen war die 1945 von dem Ingenieur Heinrich Netheler und dem Physiker Hans Hinz in Hamburg gegründete Medizintechnik-Firma Netheler und Hinz auf Schnitgers Pipette aufmerksam geworden und kaufte ihm die Patentrechte daran ab. Ihr Entwicklungs-Ingenieur Wilhelm Bergmann optimierte sie zur Marburg-Pipette weiter, die 1961 auf den Markt kam. Nach der Umbennenung von Netheler und Hinz in Eppendorf 1962 wurde sie schließlich als Eppendorf-Pipette vermarktet.

Die Hamburger Firma baute in den Folgejahren ein komplettes Mikroliter-System rund um die Mikropipette auf, das neben Pipetten, Spitzen und Reaktionsgefäßen auch dazugehörige Geräte wie Zentrifugen beinhaltete. Auch andere Firmen stiegen zu dieser Zeit auf kleinvolumige Ansätze um, was Forschern erhebliche Einsparungen beim Verbrauch von Reagenzien ermöglichte.

In Bergsee ertrunken

Schnitger selbst sollte den Siegeszug seiner Erfindung nicht mehr erleben. Er ertrank im August 1964 beim Baden im Eibsee nahe der Zugspitze. Mit ihm ging leider auch die Chance auf weitere Geniestreiche unter. Im Zuge seiner Medizinpromotion hatte Schnitger neben der Marburg-Pipette auch ein „Gerät zur automatisierten Bestimmung von Blutgerinnungszeiten“ konstruiert und patentieren lassen.

Schnitger war ähnlich umtriebig wie sein Vater August, von dem unter anderem das Patent zum „Fahrradschloss mit Speichenriegel“ stammt. Fahrräder spielen im Zusammenhang mit der Pipetten-Historie und den zugehörigen Patenten auch immer wieder eine Rolle. 1903 ließ etwa der US-Amerikaner George Wilson eine Vorrichtung zum Ölen von Fahrradteilen patentieren: „especially adapted for use in connection with the parts of bicycles.“ Zwar muss man zum Ölen eines Fahrrads kaum präzise Volumina einhalten, aber Wilsons Funktionsbeschreibung „mit einem selbstschließenden Ventil, das sich öffnet, wenn man einen Kolben durch einen Zylinder drückt“ erinnerte schon sehr stark an die Funktionsweise einer Pipette.

Neben Schnitger in Marburg gab es in den USA mit Warren Gilson ebenfalls einen begnadeten Pipetten-Bastler. Gilson hatte schon in den Vierzigerjahren verschiedene medizinische Instrumente entwickelt und 1945 die Firma Gilson Medical Electronics gegründet. Zu seinen Erfindungen zählte auch ein modifiziertes Warburg-Respirometer, das er 1963 publizierte (Science 141 3580: 531-32).

Das Gerät maß den Luftvolumenaustausch von Organismen und zeigte diesen in Form eines kreisförmigen Zeigerausschlags an. Das Untersuchungsobjekt sitzt dafür in einer geschlossenen Kammer, die mit einem Manometer verbunden ist. Ändert sich das Luftvolumen im Raum, ändert sich auch der Pegelstand im Manometer. Das Messprinzip des Respirometers beruhte auf Luftverdrängung und sich drehenden Rädchen. Das brachte Gilson auf den Gedanken, den Rädchen-Mechanismus in eine Pipette zu integrieren, um damit das pipettierte Volumen einstellen zu können. In einem 2001 mit dem US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Jay A. Martin geführten Interview schildert Gilson seinen Geistesblitz so: „It was conceived in about ten milliseconds. I had a German-made fixed volume pipet in one hand, and in the other a volumometer used in our 1963 respirometer. It used a piston and counter with number wheels. With most of the existing parts in production, a prototype was made by a machinist in two days.

„Deutsche Pipette“ als Vorlage

Die „deutsche Pipette mit fixem Volumen“ war natürlich eine von Eppendorf weiterentwickelte Schnitger-Pipette. Interessant ist, wie es mit Gilsons Prototyp danach weiterging. Nach Gilsons Schilderungen gab er diesen in Wisconsin zu Testzwecken einem deutschen Laboranten, der von der Pipette jedoch nicht besonders beeindruckt war. Also nahm Gilson sie wieder zurück und deponierte sie auf seinem Schreibtisch. Dort fiel sie nach einigen Monaten seinem Kompagnon Eric Marteau d‘Autry auf, der 1959 als Austauschstudent aus Frankreich zu Gilson gestoßen war und ihn in Herstellungsfragen als Manufacturing Mentor beriet. Gilson beschreibt d‘Autry als eine Mischung aus Marco Polo, Napoleon und Alexander dem Großen mit einem kleinen Touch von Attila dem Hunnenkönig – und offensichtlich hatte d‘Autry auch eine Spürnase für gute Ideen. Denn als er die Pipette auf Gilsons Schreibtisch liegen sah, erkannte er sofort ihr Potenzial. Nur mit seiner Einschätzung, dass sie etwa 3.000 Stück davon im Jahr verkaufen könnten, lag er gründlich daneben, worüber er aber rückblickend sicher nicht besonders traurig war. „This turned out to be a considerable underestimation“, stellte Gilson in seinem Interview dazu trocken fest.

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Als Warren Gilson eines Tages eine Pipette mit fixem Volumen in der einen Hand und ein Volumometer seines Respirometers in der anderen hielt, kam ihm ein Einfall: Er musste nur das Räderwerk des Volumometers in die Pipette einbauen, um das Volumen einstellen zu können. Zeichnung: Patent Warren Gilson

1974 erhielt Gilson schließlich das US-Patent für seine Pipette mit einstellbarem Volumen. Die Rechte an deren Vermarktung und Vertrieb verkaufte er an Ken Rainin, der 1963 die Rainin Instrument Company gegründet hatte, weil dieser nach Gilsons Einschätzung „ein guter Verkäufer“ war.

D‘Autry und Gilson arbeiteten kontinuierlich an ihrer Pipette weiter und optimierten sie. d‘Autry erfand zum Beispiel die 1991 eingeführte stählerne Außenleiste für den Spitzenabwurf sowie den drehbaren Pipettenkopf zur einfacheren Einstellung des Volumens von oben. Gilson wiederum ließ sich Veränderungen an der Pipette patentieren, die ihre Handhabung erleichtern.

Stetige Weiterentwicklung

Nach der Sturm- und Drangzeit der Mikropipetten-Entwicklung erweiterten die Hersteller die Pipetten-Funktionen und passten sie an neue Einsatzzwecke an. Eppendorf führte zum Beispiel 1978 die Multipette ein, die größere Volumen aufsaugt und portionsweise abgibt, sowie ein Jahr später die stufenlos einstellbare Varipette. 1973 ließ sich der Finne Osmo Suovaniemi die erste Mehrkanalpipette patentieren, die er auf den Namen Finnpipette taufte.1988 gründete er die Firma Biohit. Der dänische Hersteller Capp brachte 1984 eine autoklavierbare Multikanalpipette heraus. Ende des Jahrhunderts hielten schließlich elektronische Pipetten Einzug in die Labore, die das Pipettenhandling erheblich erleichtern.

Auch bei den manuellen Pipetten stand die Ergonomie zunehmend im Vordergrund. Die Hersteller reduzierten insbesondere die für den Spitzenabwurf nötigen Daumenkräfte und optimierten die Form des Pipettengriffs. Eine völlig neuartige ergonomische Pipette stellte die New Yorker Firma VistaLab Technologies 2002 vor. Das Design von Vista Labs Ovation-Pipette erinnert an ein Seepferdchen: Die Spitze befindet sich am oberem Ende des Handgriffs und steht beinahe rechtwinklig von diesem ab. Die Hand ist beim Pipettieren waagerecht positioniert und nicht senkrecht, wie bei konventionellen Pipetten, wodurch das Handgelenk entlastet werden soll.

Die jüngste Entwicklung sind Mehrkanalpipetten mit einstellbarem Abstand der Kanäle. Die sind zum Beispiel nützlich, wenn man Proben von einer 96-Well-Platte in eine 24-Well-Platte oder die Slots eines Agarosegels transferieren will.

Angesichts der Plastikberge im Labor ist insbesondere auf eine Weiterentwicklung bei den Pipettenspitzen zu hoffen. Die bestehen zumeist aus Polypropylen und sind nicht biologisch abbaubar. Zwar gibt es inzwischen Waschautomaten für gebrauchte Spitzen. Genauso nötig wären aber auch ein klares Konzept zum Recycling der Spitzen sowie alternative Materialien.

Den Tüftlern und Erfindern in den Entwicklungsabteilungen der Pipettenhersteller dürfte die Arbeit also nicht so schnell ausgehen – und vielleicht lassen sie sich dabei auch hin und wieder von den unkonventionellen Gedankengängen eines Heinrich Schnitgers inspirieren.