Editorial

Biowissenschaft for future

Henrik Müller


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Foto: Pixabay/cubicroot

(10.11.2021) Die Oberflächentemperatur der Erde steigt – langsam, aber stetig. Um diese Entwicklung einzudämmen, sind alle Wissenschaftsdisziplinen gefordert. Welche Gelegenheiten, Chancen, wenn nicht gar Pflichten bietet der Klimawandel den Biowissenschaften? Einige Fallbeispiele.

Der diesjährige Nobelpreis in Physik geht zu einem Viertel an den Hamburger Meteorologen Klaus Hasselmann. Erst seine Modellierungsmethoden komplexer Systeme erlaubten, zwischen natürlichen Wetterphänomenen und dem Einfluss anthropogener CO2-Emissionen zu unterscheiden. Fest steht seitdem: Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde steigt, und zwar gegenwärtig um 0,2 Grad Celsius pro Jahrzehnt auf mittlerweile 1,1 Grad Celsius über vorindustriellem Niveau (de-ipcc.de/256.php).

Das Pariser Klimaabkommen von 2015 macht indes klar, welche globale Katastrophe eine Erderwärmung um mehr als 1,5 bis 2 Grad Celsius wäre. Um sie zu vermeiden, müssen die Konzentrationen langlebiger Treibhausgase – neben Kohlendioxid also Methan, Distickstoffmonoxid und Halogenkohlenwasserstoffe – bis zum Ende des Jahrhunderts von gegenwärtigen 500 ⁠ppm (parts per million)⁠ bei 450 ⁠ppm⁠ CO2-Äquivalenten stabilisiert werden. In vorindustrieller Zeit lag dieser Wert übrigens bei 280 ppm. Laut Weltklimarat gibt es dafür nur eine Lösung: Wir dürfen noch maximal 420 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente (Giga-Tonnen CO2, GtCO2) emittieren, was beim derzeitigen Ausstoß einem weltweiten CO2-Budget von acht Jahren entspricht. Die verbleibenden 2.860 GtCO2 in fossilen Brennstoffen rühren wir also besser nicht an. Eher müssen wir unsere Emissionen schon in diesem Jahrzehnt um mehrere GtCO2 pro Jahr senken und bis 2100 auf null reduzieren. Zum Vergleich: Laut Umweltbundesamt verursacht die gesamte Europäische Union pro Jahr etwa 3,6 GtCO2.

Manche Wirtschaftszweige wie der Agrarsektor und das Transportwesen ermöglichen derzeit jedoch keine signifikanten Einsparungen. Zugunsten einer neutralen Kohlenstoffbilanz müssen wir der Atmosphäre daher bis zur Jahrhundertmitte auch CO2 entziehen – wie viel hängt von den Einsparungen im CO2-Ausstoß ab. Hochrechnungen gehen von zwanzig GtCO2 pro Jahr aus, also etwa der Hälfte des momentanen Ausstoßes.

Aufforstung im Großmaßstab

Mehrere Nachhaltigkeitskonzepte versprechen eine Lösung aus diesem Schlamassel. So könnte großflächig aufgeforstet, Torfmoore und Küstenökosysteme wiederhergestellt, Phytoplankton durch Eisendüngung angeregt und Biomasse in Holzkohle gebunden werden. Doch schon ein einfaches Pflanzen von Bäumen erscheint gar nicht so einfach.

Anhand von 78.774 Satellitenfotos identifizierten Umweltwissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich um Thomas Crowther weltweit 900 Millionen Hektar Land außerhalb von Siedlungen und Agrarnutzflächen für eine Trillion zusätzliche Bäume (Science 365 (6448): 76-9). Laut den Ökologen könnten sie 750 GtCO2 einfangen. Allerdings rennt die Zeit: 2050 werden infolge des Klimawandels nur noch 650 Millionen Hektar Aufforstungsfläche übrig sein. Zumal die 3,04 Trillionen Bäume der Erde jedes Jahr um weitere zehn Milliarden schrumpfen (Nature 525: 201-5).

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Die Rotbuche ist der häufigste Laubbaum Deutschlands. Während dieses mehrstämmige Exemplar augenscheinlich gut im Saft steht, ist über die Hälfte ihrer Artgenossen von Kronenverlichtung gezeichnet. Foto: Wikimedia Commons/colling-architektur (CC BY-SA 3.0)

Konkrete Zahlenwerte hängen allerdings extrem vom Klimamodell und bodenkundlichen Ertragspotenzialen ab – wie die Zürcher in einem umfangreichen Erratum eingestehen mussten (Science, doi: 10.1126/science.abc8905). Sicher ist: Ortsfremde Baumarten und Monokulturen nutzen der Kohlenstoffspeicherung nur wenig und mit Bäumen allein lässt sich die Nutzung fossiler Brennstoffe nicht ausgleichen. Auch das Projekt Trillion Tree Campaign der Plant-for-the-Planet Foundation entbindet nicht davon, CO2-Emissionen binnen unserer Lebenszeit massiv zu senken.

Genomeditierte Bäume

Deutsche Wälder speichern mit 11,5 GtCO2 ein 13-Jahres-Budget des deutschen Gesamtausstoßes. Diese Bilanz möchte der Nachwuchsgruppenleiter Tobias Brügmann am Thünen-Institut für Forstgenetik bei Hamburg langfristig verbessern – mit genomeditierten Bäumen. „Wir passen CRISPR-Cas-Systeme von Modellpflanzen wie Arabidopsis und Nicotiana über Pappeln an Rotbuchen an, um deren Trockenstresstoleranz zu steigern“, fasst er seine Forschungsbestrebungen zusammen. Die Rotbuche steht im Fokus der Forstgenetiker, da 55 Prozent des häufigsten deutschen Laubbaums laut Waldzustandserhebung 2020 deutliche Kronenverlichtung zeigen – mehr als jede andere Baumart.

Warum aber waldfremde Pappeln genomeditieren? „Neben einem mit 520 Millionen Basenpaaren vorteilhaft kleinen und 2006 als erste Baumart sequenzierten Genom wachsen Pappeln im Gegensatz zu anderen Bäumen gut auf In-vitro-Nährmedien. Ihre Einzelzellen lassen sich bereitwillig transformieren und durch Hormonzugabe binnen Monaten zu verholzenden Jungpflanzen regenerieren“, beschreibt Brügmann seinen Forschungsliebling.

Den Machbarkeitsnachweis in langsamwüchsigen Forstpflanzen erbrachte indes eine US-Arbeitsgruppe 2015. Mit CRISPR-Cas9 schalteten sie zwei 4-Cumarat:CoA-Ligasen der Lignin-Biosynthese aus und lernten gleichzeitig, wie empfindlich die Single-Guide-RNA (sgRNA) der Genschere für Einzelnukleotid-Polymorphismen ist (New Phytol., doi: 10.1111/nph.13470). Was eine in Forstpflanzen effiziente sgRNA auszeichnet, ergründet auch Brügmann seit seiner Zeit als Postdoktorand: Mithilfe von Agrobacterium tumefaciens transformierte er Grau- und Zitter-Pappeln konstitutiv mit der Streptococcus-Endonuklease und quantifizierte die Editierungseffizienz designter sgRNA anhand zwölf verschiedener Gene unter anderem für die Biomassebildung (Int. J. Mol. Sci. doi: 20 (15): 3623). Die vorläufige Schlussfolgerung: Wichtig sind der GC-Gehalt der sgRNA und vier Purine an deren 3‘-Ende. Und es ist von Vorteil, Cas9 den nicht-transkribierten DNA-Strang einer Zielsequenz zerschneiden zu lassen.

Brügmann blickt unterdessen über technische Aspekte hinaus: „Für den Moment inventarisieren wir alle Gen-Knockouts und suchen nach Phänotypen, die Zellmembranen bei Wassermangel stabilisieren, pflanzliches Gewebe erholungsfähiger und Temperatur-unempfindlicher machen oder das Wurzeltiefenwachstum anregen. Für eine Aussage, wie genomeditierte Bäume im Klimawandel helfen können, ist es aber noch ein paar Jahre zu früh.“ Klar ist hingegen, dass klassische Kreuzungszüchtung bei einem Zeithorizont weniger Jahrzehnte wenig nützt. Während Rotbuchen erst nach einem halben Jahrhundert blühen, lassen sich genetische Veränderungen mit CRISPR-Cas binnen Tagen einbauen.

Hämorrhagische Fieber in Europa

Auch auf Seiten der Fauna drängt die Zeit. Schon jetzt sterben biologische Arten Hunderte Male schneller aus als in den vergangenen zehn Millionen Jahren. Bei einem Temperaturanstieg um zwei Grad Celsius werden fünf Prozent aller Spezies verschwinden, schreibt die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Gleichzeitig verbreiten sich tropische Krankheitsüberträger auch auf der Nordhalbkugel. Beispielsweise wurden 2019 in Deutschland erstmalig beim Menschen fünf Infektionen mit dem West-Nil-Virus nachgewiesen – einem wegen Fiebererkrankungen und neurologischer Symptome gefürchteten, einzelsträngigen RNA-Virus. Aus Südeuropa sind seit Jahren lokal erworbene Infektionen mit seiner Verwandtschaft wie Zika- oder Dengue-Viren bekannt.

Als ihre Überträger fungieren invasive Stechmücken-Arten der Gattungen Aedes, Anopheles und Culiseta, die bereits in weiten Teilen Deutschlands heimisch geworden sind. Ist es mehrere Wochen anhaltend warm, dienen auch einheimische Stechmücken- und Zeckenarten als Vektoren einiger Flaviviren.

Die Impfstoffentwicklung und serologische Diagnostik von Flaviviren ist allerdings knifflig, sagt der seit 2020 stellvertretende Leiter des Leipziger Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie Sebastian Ulbert: „Das Dengue-Virus existiert zum Beispiel in vier Serotypen. Bei Immunität gegen einen Subtyp steigt das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs für einen anderen Subtyp dank kreuzreaktiver, aber nicht-neutralisierender Antikörper.“ Da sich Dengue-Viren ausgerechnet in Leukozyten vermehren, die Antikörper-Virus-Komplexe über ihre Komplement- oder Fcγ-Rezeptoren phagozytieren, erhöhen vorhandene Antikörper so die Viruslast bei einer Zweitinfektion. Darüber hinaus bestehen Kreuzreaktivitäten auch zwischen Flaviviren untereinander. Als Konsequenz sind weder spezifische Diagnostiktests noch ausbalancierte Vakzine bisher verfügbar.

Wenigstens sind die Bindungsstellen kreuzreaktiver Antikörper laut Ulbert bekannt: „Die elf Kilobasen-Genome von Zika- und Dengue-Viren codieren für nur ein Polyprotein, aus dem Wirtsproteasen unter anderem ein Envelope(E)-Protein herausschneiden. Eine hochkonservierte Fusionsschleife (FL) in dessen zweiter von drei Domänen vermittelt zum einen das Entkommen der Viren aus endosomalen Vesikeln. Zum anderen enthält sie die wichtigsten der für die Kreuzreaktionen verantwortlichen Epitope.“ Und genau hier setzte Ulberts Mitarbeiterin Alexandra Rockstroh an. In die DII-FL-Region des Zika-Virus und aller Dengue-Serotypen fügte sie vier Punktmutationen ein und entwickelte anhand dieser rekombinant in Insektenzellen exprimierten E-Proteine einen IgM-basierten ELISA, der zwischen Dengue-, Zika-, West-Nil-, Gelbfieber- und Frühsommer-Meningoenzephalitis(FSME)-Viren differenziert (Emerg. Infect. Dis., doi: 10.3201/eid2501.180605). „Sein Trick besteht darin, dass kreuzreaktive Immunglobuline die mutierten Stellen nicht binden und eine spezifische Detektion so nicht länger überdecken“, erklärt Ulbert. Blutproben brauchen nicht länger aufwendig in S3-Laboren untersucht werden. Dank seiner geringen Kreuzreaktivität stellt der mutierte Fusion-Loop des Zika-E-Proteins nebenbei auch einen vielversprechenden Impfstoffkandidaten dar (Vaccines 8(4): 603).

Volkskrankheit Allergien

Dank Klimawandel ist Gefahr nicht nur seitens der Fauna in Verzug. Warum Heuschnupfen und Asthma bronchiale zur Volkskrankheit werden, erklärt der Allergieforscher Torsten Zuberbier von der Charité in Berlin: „In den vergangenen zwanzig Jahren intensivierten sich die Pollenflugzeiten einheimischer allergener Pflanzenarten wie Birke, Erle und Haselnuss. Gleichzeitig breiteten sich bedeutende fremdländische Allergene wie die Beifuß-Ambrosie aus.“ Laut der europäischen Stiftung für Allergieforschung (ECARF) leiden mittlerweile dreißig Prozent der Bevölkerung an allergischer Rhinitis und akuten Atemwegserkrankungen. Zuberbier überrascht das nicht: „Bei allergischen Sofortreaktionen aktivieren Pollenpeptide IgE-vermittelt Mastzellen in Haut und Schleimhäuten, die dann über Histaminausschüttungen Immunreaktionen auslösen. Hierbei findet sich eine Dosiswirkungsbeziehung in der Sensibilisierung auf Allergene als auch der Auslösung allergischer Beschwerden.“

Heiße Sommer fördern dabei nicht nur die Freisetzung von Allergenen aus Pollen, sondern auch die Bildung von Ozon und Feinstaubpartikeln aus verbrannten fossilen Energieträgern. „Ozon ist ein Irritans, während Feinstaub ähnlich wie ein Adjuvans wirkt, das Schleimhäute zusätzlich irritiert, indem es an Pollen bindet“, erklärt Zuberbier, „Zusätzlich transportieren Feinstaubpartikel allergene Pollenbruchstücke bis in die feinsten Bronchialverästelungen und verstärken damit Immunantworten in Sensibilisierungs- und Auslösephasen.“ Nicht ohne Grund sind Kraftfahrzeugabgase ein Hauptrisikofaktor für allergische Atemwegserkrankungen.

Epidemiologischen Querschnittsstudien im sich ändernden Klima Europas verleiht das gesundheitspolitische Dringlichkeit, sagt Zuberbier: „Besonders in Städten rechne ich infolge ihrer speziellen Immissionssituation aus Luftschadstoffen und Pollenexposition mit einer weiteren Zunahme allergischer Probleme – weshalb wir hierzu auch bereits eine Kohorten-Studie geplant haben. Leider hat das Bundesforschungsministerium sie nach erfolgreichem Abschluss der ersten Phase, also der Machbarkeitsuntersuchung, aufgrund von Corona-bedingten Kosten zurückgestellt.“ Parallel arbeitet die Berliner Charité an Präventionsprinzipien, ergänzt der Allergieforscher: „Beispielsweise lassen sich Atemwegserkrankungen abmildern, indem wir das Mikrobiom des Darms beeinflussen. Entscheidend dafür ist, regulatorische T-Zellen über co-stimulierende Moleküle anzuregen, irrtümlich als Gefahr eingestufte Pollenantigene zu tolerieren. Außerdem möchten wir ein Analyseverfahren entwickeln, das alle IgE-bindenden Epitope eines Patienten detektiert, um den individuell wirksamsten Hyposensibilisierungsextrakt vorhersagen zu können.“ Relevant wäre das nicht nur für Pollen, sondern auch für sich in Nordeuropa ausbreitende Innenraumallergene wie Küchenschaben und Vorratsmilben.

Proteine aus Luft und Licht

Derartige Kollateralforschung wäre teilweise vermeidbar: durch einen unmittelbaren Komplettumstieg von fossilen Energieträgern auf erneuerbare Energien. Ansonsten muss CO2 laut Weltklimarat ja zusätzlich aus der Atmosphäre gefiltert werden. Noch schafft das allerdings kein Direct-Air-Capture-Verfahren nachhaltig und kosteneffizient, denn der geringe atmosphärische CO2-Volumenanteil von nur 0,04 Prozent erfordert einen zu hohen Energieeinsatz.

Die 2018 in Dortmund gegründete Firma b.fab kooperiert deshalb mit Stahl-, Zement- und Kraftwerksbetreibern, die CO2 zwei- bis dreihundertmal konzentrierter emittieren, und generiert Wertschöpfungsketten aus deren Abfallstoff. Das übertrumpft traditionelle Biotechnologie, sagt b.fabs-Geschäftsführer Frank Kensy. „Wenn heterotrophe Mikroorganismen pflanzliche Lignocellulose und Kohlenhydrate verstoffwechseln oder phototrophe Mikroalgen Biomasse produzieren, finden sich nur 0,2 beziehungsweise 1,5 Prozent der Sonnenenergie im finalen Produkt“, weiß Kensy. „Wird die Elektrizität von Windanlagen oder Photovoltaikzellen dagegen elektrochemisch in Wasserstoff konvertiert und chemolithoautotrophen Organismen zur CO2-Reduktion bereitgestellt, sind es 7,6 Prozent der Sonnenergie“ (Nat. Rev. Microbiol. 14: 692-706).

Genau das nutzen die Dortmunder in ihrer Bioraffinerie der Zukunft. In Solarstrom betriebenen Elektrolyseuren reduzieren sie CO2 zu HCOOH (Ameisensäure) und füttern E. coli in Bioreaktoren damit als Energie- und Kohlenstoffquelle. Ein Mikrobiologe mag jetzt die Stirn runzeln, schließlich wächst E. coli nicht auf Molekülen mit nur einem Kohlenstoff-Atom. Doch b.fab-Mitgründer Arren Bar-Even nahm sich am Max-Planck-Institut (MPI) für Molekulare Pflanzenphysiologie in Potsdam-Golm den reduktiven Acetyl-CoA-Weg anaerober Mikroorganismen zum Vorbild und erzeugte den weltweit ersten E.-coli-Stamm, der tatsächlich auf Ameisensäure wächst. Laut Kensy klingt das einfacher gesagt als getan: „Stoffwechselprozesse verlaufen zyklisch und werden vielfach verschachtelt reguliert. Bar-Evens Arbeit ist ein Meilenstein!“

Um Kohlenstoff über Ameisensäure zu assimilieren, designten die MPI-Forscher um Bar-Even einen linearen, reduktiven Glycin-Weg am Reißbrett und bauten ihn in Form von vier Modulen ins E.-coli-Genom ein (Nat. Chem. Biol. 16: 538-45). In den nächsten Jahren sollen Elektrolyseur und Bioreaktor vom Labor auf den industriellen Maßstab hochskaliert werden.

Bei dem designten Stoffwechselweg fällt viel Pyruvat an – was lässt sich damit anfangen? „Momentan haben wir zwei Produktportfolios im Fokus: Polymilchsäure und Polyhydroxybuttersäure als abbaubare Biokunststoffe und mikrobielles Zellprotein als Nahrungs- und Futtermittel“, gibt Kensy Auskunft. Damit geht das mittlerweile nach Köln umgezogene Jungunternehmen also nicht nur Klima- und Plastikkrisen an, sondern stellt sich mit den Zellproteinen und abgeleiteten Aminosäuren auch der dritten Herausforderung unserer Zeit – am Ende des Jahrzehnts neun Milliarden Menschen zu ernähren. Kensy vergleicht: „Die verbreitetsten Agrarverfahren generieren über Sojabohnen und Zuckerrüben eine bis drei Tonnen Protein pro Hektar Nutzfläche. Wir erschaffen aus CO2 und Sonnenlicht 15 Tonnen Protein pro Hektar, und zwar selbst in Wüsten, Ödland oder Hochgebirgsregionen.“

Tierfreie Milchprodukte

Tatsächlich produziert die Landwirtschaft laut Welternährungsorganisation enorme Mengen an Klimagasen: Rinder weltweit fünf GtCO2 pro Jahr, Schweine und Geflügel je 0,8 GtCO2. Pro Kilogramm Rindfleisch werden 300 Kilogramm CO2-Äquivalente emittiert. Allein die Milchviehindustrie ist mit zwei GtCO2 für vier Prozent der jährlichen Treibhausgase verantwortlich. Das ist mehr als Luft- und Schifffahrt kombiniert.

Einen historischen Umbruch der Milch- und Käseindustrie läutet das 2019 unter dem Namen LegenDairy Foods in Berlin gegründete Biotech-Start-up Formo ein. Dank mikrobieller Fermentation kommt es mit 84 Prozent weniger Energie und 93 Prozent weniger CO2-Emissionen auf 86 Prozent weniger Land aus, sagt Formos Forschungsvorsitzende Britta Winterberg. „Im Vergleich zu Milchvieh sind Mikroorganismen einfach zwanzigmal effizienter darin, aus Futterkalorien eine Milchkalorie zu produzieren“, jubelt sie.

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Vollmilch ist biochemisch ein komplexes Gemisch. Beim Start-up Formo kommen die Bestandteile nicht von Tieren, sondern von Hefe-Pilzen und Pflanzen. Foto: Formo

Biochemisch ist Vollmilch ein überraschend komplexes Gemisch Hunderter Bestandteile. Neben Laktose, Fetten, Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen enthält sie 3,5 Prozent Eiweiß. Ein Fünftel der Proteinfraktion machen Molkenproteine aus, also hauptsächlich α-Lactalbumin und β-Lactoglobulin. Die restlichen vier Fünftel bestehen aus α-S1-, α-S2-, β- und κ-Caseinen.

Formo exprimiert diese Milchproteine naturidentisch in Hefen, mischt sie mit pflanzlichen Fetten und Kohlenhydraten und stellt daraus traditionelle Käseprodukte her. Säugetiere braucht all das nicht mehr, was die Atmosphäre schont und den Massenverbrauch von Antibiotika sowie männlicher Kälber als Abfallprodukte der Milchviehindustrie abschafft.

„Aus genetischer Sicht ist die tierfreie Käseproduktion simpel“, erläutert die am Marburger MPI für terrestrische Mikrobiologie promovierte Winterberg. „Die weltweit dominierende Milchkuhrasse des Holstein-Rinds unterscheidet sich von Zweinutzungsrindern in nur wenigen Allelen. Wir brauchten daher nur sechs bovine Gene für vier Caseine, α-Lactalbumin und β-Lactoglobulin transformieren.“ Als wenig anfängerfreundlich erwiesen sich jedoch die rekombinanten Caseine, deren 169 bis 209 Aminosäuren langen Makropeptidketten in Kuhmilch keinerlei Sekundär- und Tertiärstruktur ausbilden, sondern zu Calziumphosphat-Mizellen aggregieren: „Einerseits erschweren ihre hydrophoben Wechselwirkungen die Expression, andererseits macht sie das einzigartig. Nur Säugetiermilch bietet die Funktionalität von Casein-Mizellen.“ Erst Caseine sorgen beispielsweise dafür, dass Käse auf Pizza schmilzt, sich dehnt und Fäden zieht, während Quark durch ihre Denaturierung seine feste Konsistenz erlangt.

Was Winterberg aus Markenschutzgründen nicht detaillierter beschreibt, gleicht sie durch Produktbegeisterung aus: „Da wir die gesunden Milch-Komponenten wie Calzium, Vitamine und Spurenelemente beimischen können und die problematischen wie Laktose und Cholesterin auslassen, können wir nicht nur auf Unverträglichkeiten eingehen, sondern ganz neue Produkte kreieren.“ Frischkäse wie Mozzarella und Ricotta produziert Formo bereits testweise. Gereifte Käsesorten wie Appenzeller und Emmentaler werden folgen, sobald eine Pilotanlage aufgebaut und das Berliner Team um weitere Naturwissenschaftler und Lebensmitteltechnologen gewachsen ist. Die ersten tierfreien und klimaschonenden Käse sollen übernächstes Jahr auf dem globalen Markt sein.

Bioscientists for future

Eines wird anhand dieser sechs Fallbeispiele klar: An Forschungsansätzen im Kielwasser des Klimawandels mangelt es nicht. Biowissenschaftler können sich der Vielfalt an Ideen und Lösungsvorschlägen kaum erwehren. Extra großzügig finanziert oder breitflächig umgesetzt werden laut ihrer Betreiber aber nur die wenigsten. Im Gegensatz dazu haben sich die weltführenden Erdöl- und Erdgasproduzenten, die vier Fünftel des globalen CO2-Budgets bestimmen, noch immer nicht dem Zwei-Grad-Celsius-Ziel des Pariser Klimaabkommens verpflichtet. Auch die Vorgaben aller politischen Entscheidungsträger der Welt mindern CO2-Emissionen bisher nur auf eine Erderwärmung von 2,9 Grad Celsius. Während unterdessen die Klimajugend gesellschaftliche Verantwortung übernimmt, läuft den Medizinerinnen und Biowissenschaftlern die Zeit davon. Sind sie in der Pflicht, öffentlich die Stimme zu erheben (scientists4future.org)?