Editorial

Venomics – Tiergiftforschung neu erfunden

Larissa Tetsch


(13.06.2022) Die Erforschung von Tiergiften verspricht nicht nur neue Erkenntnisse zur Ökologie und Evolution von Gifttieren, sondern auch potenzielle Anwendungen als Medikamente oder Insektizide. Dank methodischer Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten ist die Gifttierforschung nun im großen Maßstab möglich. Eine moderne Forschungsdisziplin ist entstanden – die „Venomics“ –, mit der Wissenschaftler Tieren und ihren Giften auf den Zahn fühlen.

Von den über 1,2 Millionen bisher bekannten Tierarten sind über 200.000 giftig. Dabei ist die Fähigkeit, Gifte einzusetzen, um damit entweder Feinde abzuwehren oder selbst Beute zu machen, immer wieder unabhängig voneinander entstanden, sodass heute in jeder Tiergruppe Gifttiere vorkommen. Tiergifte sind extrem komplexe Gemische aus bis zu vielen hundert unterschiedlichen Komponenten, den Toxinen.

Die Erforschung von Giften ist uralt: Schon in der Antike betätigten sich Menschen als Giftmischer – um zu schaden oder zu heilen. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Gifttierforschung aber endgültig zu einer modernen und ganzheitlichen Forschungsdisziplin herangereift, die unter dem Begriff Venomics verschiedene biochemische, molekularbiologische und bildgebende Verfahren miteinander vereint.

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Gemeiner Steinläufer (Lithobius forficatus) Fotos(3): Björn von Reumont

Einer ihrer Vertreter in Deutschland ist Björn von Reumont, der zuletzt am Institut für Insektenbiotechnologie der Universität Gießen die Arbeitsgruppe für „Tiergifte“ koordiniert hat. „Ursprünglich bezog sich die Giftforschung nur auf Tiere, die auch beim Menschen Vergiftungen verursacht haben“, erklärt er. „Geforscht wurde hauptsächlich, um Gegengifte zu finden; im Fokus standen Spinnen, Schlangen, Skorpione und vielleicht noch Bienen und Wespen.“ Heute suchen er und seine Kolleginnen und Kollegen auch in anderen, oft exotisch anmutenden Tiergruppen wie Krebsen und Hunderfüßern nach Giften – immer in der Hoffnung, dort etwas Neues, vielleicht gänzlich Unbekanntes und bestenfalls sogar Nützliches zu entdecken.

Viel Handarbeit

Und längst stehen nicht mehr nur die aktiv giftigen Tiere im Fokus, also solche mit Stachel, Giftzähnen oder Giftklauen. Passiv giftige Tiere, die ihre Gifte über Hautdrüsen absondern, seien ebenfalls interessante Studienobjekte, ist von Reumont überzeugt. „Als Toxin bezeichnen wir alle Substanzen, die eine Giftwirkung haben“, sortiert er die Begriffe. „Toxine in passiven Giften, die über die Haut oder häufiger über den Verdauungstrakt des Opfers aufgenommen werden, sind meist kleine Verbindungen wie Alkaloide, Phenole oder Blausäure. Sie werden als sekundäre Stoffwechselprodukte produziert und wirken im Körper relativ unspezifisch. Man findet sie vor allem bei Amphibien, Insekten, aber auch bei manchen Spinnentieren wie den Hornmilben.“

Während passive Gifte ausschließlich dem Schutz vor Fressfeinden dienen, können Tiere aktiv Gifte je nach Kontext zur Verteidigung oder zur Jagd einsetzen. Da sie das Gift über einen Giftapparat in den Körper des Angreifers oder Opfers injizieren, können ihre Toxine größer sein. Typischerweise enthalten deshalb Spinnen- und Schlangengifte überwiegend Peptide und Proteine, die stets sehr spezifische Wirkungen haben. Viele von ihnen binden an bestimmte Ionenkanäle oder haben enzymatische Funktionen, mit denen sie Gewebe und Zellen auflösen können. „Die Grenze zwischen passiven und aktiven Giften kann aber ziemlich schwammig sein“, schränkt von Reumont ein. „Schmetterlinge wie das Hufeisenklee-Widderchen geben beispielsweise Blausäure als passives Toxin ab. Wenn Raupen aber spezielle Gifthaare bilden, also eine Struktur, um die Abgabe ihrer Gifte zu fördern, muss man sie eigentlich schon zu den aktiv giftigen Tieren zählen.“ Gleiches gilt für Frösche, die ihre Hautgifte mithilfe von knöchernen Strukturen am Kopf möglichst effizient übertragen, oder Giftfische, die dies über Stacheln an der Rückenflosse bewerkstelligen. Außerdem, so der Gifttierforscher: „Bei vielen Arthropoden kennt man die Giftsysteme noch nicht gut. Bei der Aufklärung können moderne bildgebende Verfahren wie die Computertomographie helfen.“

Überhaupt sind es vor allem methodische Fortschritte, die die Gifttierforschung in den vergangenen Jahren beflügelt haben, wie von Reumont betont. „In der Anfangszeit der Gifttierforschung konnten nur Tiere untersucht werden, die große Mengen an Gift produzieren“, erinnert sich der Forscher. „Das waren vor allem Schlangen, die sich ja regelrecht melken lassen, und einige große Spinnen.“ Wissenschaftler reinigten die Rohgifte zuerst durch Filter und fraktionierten sie anschließend durch trennende Verfahren wie Gelelektrophorese oder Flüssigkeitschromatographie. Wenn man Glück hatte, erhielt man auf diese Weise reine Toxine, die man weiter untersuchen konnte. Sequenzen wurden über Edman-Abbau oder Massenspektrometrie aufgeklärt; um die biologische Aktivität zu untersuchen, kamen pharmakologische Assays zum Einsatz, die ebenfalls viel Material benötigten.

„Zu Beginn der Gifttierforschung konnte man biologische Aktivität von Giften nur in Gemischen messen“, erinnert sich Dietrich Mebs, der sich bereits in den 1960er-Jahren während seiner Doktorarbeit mit Schlangengiften beschäftigte und diesen über 50 Jahre treu geblieben ist. „Im Vordergrund unserer Arbeit stand deshalb anfangs, die einzelnen Toxine voneinander zu trennen und zu reinigen.“ Die Etablierung von säulenchromatographischen Verfahren wie Ionenaustausch und Gelfiltration zur Trennung von Proteinen sei eine kleine Revolution gewesen: „Mit wenig Aufwand und etwas Geschick konnte man damit recht reine Toxine bekommen.“

Methodische Fortschritte

Nach seiner Doktorarbeit musste der Toxikologe erkennen, dass man mit Tiergiftforschung allein in Deutschland kaum Aussichten auf eine Professur hatte. Er habilitierte sich deshalb in der Rechtsmedizin und blieb bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 als Honorarprofessor an der Frankfurter ­Goethe-Universität. „Hauptberuflich habe ich mich mit Vergiftungen beim Menschen beschäftigt“, erzählt Mebs. „Aber ich hatte immer die Freiheit, meine Schlangengift-Forschung weiterzuführen.“

Nach der Reinigung von Toxinen stand mit der Sequenz- und Strukturaufklärung die nächste Herausforderung an: „Anfangs konnte man Proteine nur hydrolysieren und dann die einzelnen Aminosäuren nachweisen. Später ließen sich Sequenzen über den Edman-Abbau bestimmen“, erinnert sich der Toxikologe. „Das ging damals alles per Hand und war aufwendig, aber es hat die Proteinforschung sehr vorangebracht.“ Mebs selbst hat die Methode im japanischen Osaka erlernt und damit 1970 die damals erst zweite Aminosäuresequenz eines Schlangengifttoxins entschlüsselt – des alpha-Bungarotoxins aus dem Gift des Chinesischen Vielbindenkraits (Bungarus multicinctus).

Mit den vorgestellten Methoden kommt man aber schnell an die Grenzen, wenn nur wenig Rohgift zur Verfügung steht, sind sich Mebs und von Reumont einig. Schon die Gewinnung des Rohgifts sei dann manchmal eine Herausforderung. „Bei meinen Versuchen mit Wildbienen oder Krebs-Arten konnte ich das Gift meist nur gewinnen, in dem ich die Giftdrüse herauspräparierte“, so von Reumont. „Naturgemäß stehen bei so kleinen und oft weniger häufigen Arten dann nur kleinste Giftmengen für Analysen zur Verfügung.“

Hier sind den Venomics-Forschern insbesondere zwei Entwicklungen zu Hilfe gekommen: Erstens, so von Reumont, habe sich die Empfindlichkeit von analytischen Verfahren wie der Massenspektrometrie deutlich verbessert. Und zweitens existieren heute molekulare Methoden, mit denen sich Toxin-Gene im Genom aufspüren und in Proteinsequenzen übersetzen lassen. „Wir können heute beispielsweise die kompletten Transkripte aus der Giftdrüse extrahieren“, freut sich der Giftforscher. „Wenn wir diese Daten mit dem Proteom, also allen Peptiden und Proteinen aus dem Rohgift abgleichen, können wir Toxine ziemlich sicher identifizieren.“

Auch die dazugehörigen Gene lassen sich anschließend aufspüren – zumindest wenn vergleichende Genomdaten vorliegen. Und da habe sich ebenfalls viel getan: „Wir profitieren sehr davon, dass immer mehr Genome veröffentlicht werden, die dabei helfen, die noch recht unklaren Mechanismen zu verstehen, die die Entstehung von Gift-Genen antreiben.“ Dass Methoden wie der Edman-Abbau heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind, findet Mebs zwar etwas schade, doch ansonsten ist er wie sein jüngerer Kollege davon begeistert, was in der Giftforschung möglich geworden ist.

Da die Omics-Techniken mit biochemischen Tests, bildgebenden Verfahren und bioinformatischen Analysen Hand in Hand gehen, ist beiden Forschern klar, dass Gifttierforschung heute nur noch interdisziplinär geht. Von Reumont hat deshalb gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen das European Venom Network (EUVEN) gegründet, das die europäischen Venomics-Forscher miteinander vernetzen soll (LJ berichtete darüber online unter dem Titel „Die Gift-Allianz“, 31.5.21, Link). Vorbild war die Queensland University in Australien, die alle Aspekte der Gifttierforschung auf einem Campus vereint. Inzwischen hat EUVEN rund 120 Mitglieder, darunter 11 aus Deutschland. „Wir wollen vor allem den Austausch von Expertise fördern“, sagt der Netzwerk-Mitgründer. „Dabei soll auch die Bevölkerung einbezogen werden, beispielsweise durch Citizen-Science-Projekte und Summer Schools. Ganz wesentlich ist für uns auch die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern, Unterstützung weniger entwickelter europäischer Länder und eine Anbindung an die Industrie.“

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Hausfeldwespe (Polistes dominula)

Enttäuschende Bilanz

Denn an die Anwendung von Giften knüpfen sich viele Hoffnungen – spätestens seit der Entdeckung des Conotoxins Ziconotid aus der Zauberkegelschnecke (Conus magnus), das Schmerzen wirksamer ausschaltet als Morphin, dazu mit dem Vorteil, dass ein Gewöhnungseffekt ausbleibt. Nicht zufällig wurde deshalb von Reumonts Stelle an der Uni Gießen vom LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik finanziert, einer institutionsübergreifenden Drittmittelinitiative, die Grundlagenforschung in die Anwendung bringen möchte. Von Reumont möchte allerdings lieber keine zu großen Hoffnungen wecken. „Tatsächlich haben die vergangenen zwanzig Jahre Forschung bisher relativ wenige Produkte auf den Markt gebracht“, sagt er. Zwar gebe es immer wieder Durchbrüche wie ein Peptid aus Spinnengift, das als Bio-Insektizid den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen unnötig machen kann. „Aufgrund seiner stabilen Struktur kann es einfach auf die Pflanzen gesprüht werden.“

Anwendungen für Toxine seien aber Einzelfälle, denn das große Problem sei ein Engpass weiter hinten in der Forschungspipeline: „Durch unsere neuen Venomics-Methoden können wir heute vielversprechende Kandidaten tatsächlich sicherer identifizieren. Die Produktion und anschließende Testung bleiben aber das Nadelöhr“, ist der Forscher überzeugt. Während kleine Peptide noch in Feststoffsynthese hergestellt werden können, müssen größere Peptide und Proteine heterolog exprimiert werden. Dabei kann es zu Fehlern bei der Faltung kommen, die gerade bei Toxinen essenziell für deren Aktivität ist. „Von 10.000 Kandidaten bleiben dann vielleicht nur 10 bis 100 übrig, die in die präklinische Testung gehen. Weitere Kandidaten scheiden später aus, weil sie schwere Nebenwirkungen haben.“

Mebs ist ebenfalls enttäuscht darüber, wie wenig Anwendungen sich aus fünfzig Jahren Forschung ergeben haben. „Wir Toxikologen haben uns immer gefragt, wie man unsere Ergebnisse pharmazeutisch nutzen kann“, sagt er. „Zwar gibt es viele Toxine mit ganz spezifischen Wirkungen, aber die Versuche, daraus Medikamente zu machen, waren nicht sehr erfolgreich.“ Einer der Gründe dafür, warum viele Wirkstoffkandidaten bei klinischen Studien auf der Strecke bleiben, sei, dass Peptide im Verdauungstrakt leicht inaktiviert werden. Auch der Patentschutz wirft Fragen auf, weil sich Sequenzen alleine nicht patentieren lassen. „Patentiert wird immer nur die Anwendung von Sequenzen, also Herstellungsverfahren, Modifikationen oder innovative Applikationen“, erklärt von Reumont.

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Ein Falcon-Tube, Gummibänder und eine Pinzette helfen den Gifttierforschern, Hundertfüßer der Gattung Scolopendra zu melken.

Von Krebsen bis Hundertfüßern

Abgesehen von den Anwendungsaspekten lässt sich natürlich an Tiergiften jede Menge spannende Grundlagenforschung betreiben. Von Reumont selbst interessiert sich vor allem für die Evolution von Gift-Genen. Dabei konzentriert er sich unter anderem auf die Gruppe der Pancrustacaea, die Krebse und Insekten umfasst. „Gerade bei den Insekten profitieren wir sehr davon, dass immer mehr Genome veröffentlicht werden“, so der Gifttierforscher. „Hier kann man gut untersuchen, wie verschiedene Gifte entstehen, wie sie sich an Situationen anpassen und welchen Sinn sie ökologisch machen.“ In diesem Zusammenhang scheint besonders interessant, dass manche Tiere wie Kegelschnecken oder Raubfliegen ihr Gift zum Teil extrem schnell an verschiedene Situationen anpassen können, etwa von einem Verteidigungs- auf ein Angriffsgift umstellen.

Zurzeit bearbeitet von Reumont außerdem ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), das sich mit der Evolution der Gifte von Stechimmen beschäftigt. „Bienen und Wespen sind gut untersucht, die ganzen solitären Bienen allerdings weniger. Gerade konnten wir erste Erkenntnisse zum Gift der Violetten Holzbiene (Xylocopa violacea) publizieren“, freut sich der Forscher (Toxicon X 14: 100117). Von Reumont war übrigens 2014 der Erste, der als ausgebildeter Höhlentaucher giftige Krebse beschrieben hat: die Remipeden, die in Unterwasserhöhlen leben und eher aussehen wie Tausendfüßer (Mol. Biol. Evol. 31: 48). „Für die Remipeden macht es absolut Sinn, giftig zu sein“, erklärt von Reumont. „In ihren Höhlen treffen sie nur selten auf andere Lebewesen. Wenn Nahrung vorbeikommt, wird diese deshalb sofort gelähmt.“ Weitere Forschungsobjekte des Gifttierforschers beschäftigen sich mit Raubfliegen, Raubwanzen und Hundertfüßern.

Während von Reumont überwiegend auf Nukleinsäuren spezialisiert ist, stellen andere Venomics-Forscher das Proteom in den Mittelpunkt. Zu ihnen gehört Maik Damm, der an der Technischen Universität Berlin im Rahmen seiner Doktorarbeit Schlangengifte mittels Massenspektrometrie untersucht und zusammen mit von Reumont in EUVEN aktiv ist. „Mein Hauptfokus liegt auf der Ermittlung der Giftzusammensetzung einzelner Arten“, erklärt der Nachwuchsforscher. „Im Vordergrund stehen dabei vor allem Vipern und einige Kobras, deren Gifte ich mit denen anderer Schlangen vergleiche.“ Obwohl ihre Gifte auch für den Menschen gefährlich sind, sei über die Zusammensetzung noch vieles unbekannt.

Damms Interesse an der Vielfalt und Evolution von Schlangengiften wurde bereits in der Schule geweckt: Hier schließt sich ein Kreis, denn die Basis für den Vortrag, den er damals hielt, war ein von Dietrich Mebs geschriebenes Lehrbuch. Besonders fasziniert Damm, dass die Gifte sich nicht nur von Spezies zu Spezies unterscheiden, sondern sich im Verlauf des Lebens verändern können. Unter anderem weil Schlangen lebenslang wachsen, wie Damm erklärt: „Junge Schlangen fressen eher Insekten und kleine Reptilien und bilden daran angepasste Gifte. Später ändert sich das Beutespektrum hin zu Vögeln und Säugern und damit auch die Giftzusammensetzung.“

Ein Schwerpunkt von Damms Arbeit liegt auf der Verbesserung der Analytik. Denn die Massenspektrometrie, die immer noch Mittel der Wahl bei der Erforschung des Giftproteoms ist, stößt bei großen Proteinen wie den Viper-Toxinen an ihre Grenzen. Zwar kann man die Proteine zuerst proteolytisch verdauen und dann die Bruchstücke analysieren, doch dieser Bottom-up-Ansatz sei aufwendiger, langwieriger und noch dazu teurer, als die vollständigen Proteine zu untersuchen. „Wir testen deshalb Massenspektrometer mit unterschiedlichen Ionisierungsquellen und Analysatoren, um herauszufinden, wie wir auch große Proteine im Top-down-Ansatz, also ohne vorherige Hydrolyse, untersuchen können“, so der Proteomforscher.

Einblicke in eine Giftdrüse

Kooperationen hält der Berliner für entscheidend für den Erfolg: „Kaum eine Arbeitsgruppe kann alle Aspekte der Gifttierforschung alleine bearbeiten. Da ich kein Biologe bin, brauche ich beispielsweise Kooperationspartner, die in der Feldforschung interessante Schlangen finden und mir ihr Gift zuschicken. Auch Methoden und Analysegeräte tauscht man untereinander aus.“

Ein aktuelles Beispiel ist die Zusammenarbeit mit dem Tierpark Berlin, um die Lagerung von Toxinen innerhalb des Giftdrüsenapparates einer Kobra zu untersuchen. Leitender Wissenschaftler des Projekts ist der ehemalige Betreuer von Damms Masterarbeit, Benjamin-Florian Hempel, der sich auf bildgebende Massenspektrometrie spezialisiert hat. Inzwischen arbeitet er als Postdoc an der Charité Berlin und koordiniert zusammen mit von Reumont eine Arbeitsgruppe in EUVEN, die sich mit neuen Methoden und Werkzeugen in der Venomik beschäftigt. „Eine Kompartimentierung der Giftdrüse macht etwa Sinn, wenn sich Toxine sonst gegenseitig inaktivieren würden“, erklärt Hempel.

Auch die Lagerung von Giften für verschiedene Zwecke, wie etwa Angriffs- und Verteidigungsgifte, in unterschiedlichen Bereichen der Drüse sei von Vorteil. „Neueste Studien lassen vermuten, dass etwa Blut- und Schnurwürmer sowie Raubwanzen, die hoch effiziente und angepasste Gifte für die aktive Beutejagd produzieren, verschiedene Toxine an unterschiedlichen Orten innerhalb der Giftdrüse produzieren und lagern.“ Auch bei Kobras gebe es erste experimentelle Hinweise darauf, dass auf diese Weise der Giftcocktail im begrenzten Umfang zum Zwecke der Selbstverteidigung angepasst werden kann.

Für die bildgebende MALDI-Massenspektrometrie wurde die Giftdrüse der Tierpark-Kobra zuerst in Scheiben geschnitten und mit einer Matrix besprüht, die die Energie eines Lasers absorbiert. „Durch die Absorption der Energie kommt es zu einer Explosion, bei der Teile der Probe verdampfen“, erklärt Hempel. „Die verdampften Moleküle können dann spektrometrisch analysiert werden. Indem man die Giftdrüse mit einem Fadenkreuz abrastert, bekommt man am Ende für jeden Punkt ein Spektrum.“ Dabei liegt die Auflösung immerhin schon bei etwa zwanzig Mikrometer. Und das Beste: Man kann die bildgebende Massenspektrometrie sogar noch mit einem Aktivitätsnachweis koppeln. „Bei einem solchen funktionellen Imaging lässt sich die Aktivität von Enzymen indirekt im Gewebe nachweisen“, so Hempel. „Dafür werden Peptide hinzugegeben, die anschließend von dem adressierten Enzym umgesetzt werden können. Die Produkte lassen sich dann mit dem Spektrometer nachweisen – oder eben nicht, wenn die Aktivität fehlt.“

Auf diese Weise kann man beispielsweise Hemmstoffe für enzymatisch aktive Toxine wie Metalloproteasen suchen. „Die hemmende Wirkung kleiner Moleküle wurde aber bisher nur in Zellkultur nachgewiesen“, bedauert der Massenspektrometrie-Experte. „Wir möchten gerne einen Schritt weitergehen und mit unserem Ansatz die Inhibierung direkt in Gewebeproben bestätigen.“

Spezielle Spektrometer lassen sich auch im bisher noch vernachlässigten dritten Bereich der Giftforschung einsetzen: der Metabolom-Forschung. „Dadurch könnten die passiven Gifte mit ihren überwiegend kleinen Verbindungen endlich mehr in den Fokus der Forschung geraten“, hofft Hempel.

Aber auch die Erforschung der Metaboliten in Schlangentoxinen steht auf der Wunschliste des Forschers. Gelegenheit dazu könnte er bald bekommen. Denn während er im Moment auf einer Drittmittel-finanzierten Stelle damit beschäftigt ist, die bildgebende Massenspektrometrie als diagnostische Methode in der klinischen Routine zu etablieren und Giftforschung eher als Hobby betreibt, wechselt er im Sommer auf eine Laborleiterstelle für Massenspektrometrie am neugegründeten Zentrum für Resistenzforschung der Freien Universität Berlin. „Dort soll die Venomics wieder mehr in den Fokus rücken“, freut sich Hempel.

Auch Damm, der im finalen Jahr seiner Doktorarbeit ist, möchte den Schlangengiften treu bleiben und als Postdoc an einer anderen Uni weiterforschen. Von Reumont hat Gießen verlassen und setzt seine Projekte zurzeit als Gastforscher in der Gruppe von Ingo Ebersberger an der Universität Frankfurt am Main fort. Gemeinsam mit dem Bioinformatiker möchte der Gifttierforscher Werkzeuge etablieren, mit denen man die Suche nach Toxin-Genen automatisieren kann. Eine Perspektive in Deutschland wäre ein Wunsch des Tiergiftexperten; durch die schwierige Stellensituation für erfahrenere Wissenschaftler orientiert er sich aber auch verstärkt ins Ausland wie Frankreich, Großbritannien und die Niederlande.