Leben ist Sprache –
Abstraktion als Grundprinzip biologischer Systeme

Robert Prinz


Editorial

Was ist Leben? Bei der Suche nach Grundprinzipien könnte die Biologie sich Hilfe bei der Semiotik holen. Denn nur Lebewesen codieren.

Mit der Definition von Leben tun sich Biologen und Chemiker meist schwer. Ob Virus oder minimale Zelle, Ausgangspunkt vieler reduktionistischer Denkansätze sind deren Bestandteile oder besondere Fähigkeiten wie etwa die Replikation. Wobei die Art des Zusammenspiels einzelner Komponenten zudem nur auf Molekül-Molekül-Interaktionsebene betrachtet wird. „Neue“ Ideen hingegen, die zu einer schlüssigen Definition von Leben führen könnten, wurden zuletzt durch die Sprach- und Kommunikationswissenschaften in die Biologie eingebracht – blieben aber bis heute weitestgehend unbemerkt von „Laborwissenschaftlern“.

In der Juli-2018-Ausgabe des Laborjournals beschreibt Petra Schwille sehr gut den gegenwärtigen Erkenntnisstand der Laborwissenschaften in der Frage „Was ist Leben?“ (LJ 7-8/2018: 60-2). Vollkommen richtig legt sie dar, dass „der Schlüssel zu den besonderen Eigenschaften lebender Materie weniger in deren Aufbau als vielmehr in den Interaktionen der einzelnen Komponenten miteinander zu suchen ist.“ Doch was sind das für Interaktionen? Lassen sich die vielfältigen zellulären Interaktionen auf gemeinsame Grundprinzipien reduzieren? In der Tat lässt sich ein kleinster gemeinsamer Nenner finden, der den charakteristischen Relationen lebender Systeme zugrunde liegt...

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Foto: focalpoint / Fotosearch

Was biotische von abiotischen Systemen unterscheidet, ist die Verwendung von Codes. Diese codierten Interaktionen gleichen denen sprachlicher Abstraktionen, wie wir sie aus unserem Alltag zuhauf kennen. Ein Straßenschild mit einem Zeichen in Form eines Kreuzes steht für eine Straßenkreuzung. Das Objekt „Kreuzung“ wird hierbei repräsentiert durch das Verkehrszeichen, welches wiederum von einem Verkehrsteilnehmer interpretiert wird. In dieser Dreiecksbeziehung finden wir also ein Objekt, ein Zeichen und einen Interpreter. Entscheidend ist hierbei, dass die Beziehung der drei absolut willkürlich ist und auf einer Vereinbarung, einer Konvention, beruht. Es gibt keinen physikalisch-chemischen Kausalzusammenhang in dieser Kette. Ein Kopfhörer an einer Laterne könnte genauso gut für eine Straßenkreuzung stehen, wenn wir uns darauf einigten. Eine klassisch naturwissenschaftliche Herleitung eines solchen Codes ist unmöglich.

Es mag erstaunlich klingen, aber auch auf molekularer Ebene finden sich solche Codes. Prominentes Beispiel ist der genetische Code. Hier interpretiert eine tRNA (Interpreter) ein Codon (Zeichen), welches für eine Aminosäure (Objekt) steht.

Editorial

Es gibt viele weitere solcher codierten Interaktionen in lebenden Systemen, die Forschungsschwerpunkt der sogenannten Biosemiotik sind und in einschlägigen Publikationen detailliert analysiert werden. Insbesondere die Lektüre von Marcello Barbieris Paper „Life and Semiosis: The real nature of information and meaning“ (Semiotica 158–1/4: 233-54) hat hier sehr viel zu bieten. Barbieri, ein Pionier der Biosemiotik, schafft es wie kaum ein anderer, die Frage „Was ist Leben?“ zu beantworten.

Leben erschafft Codes, so die Botschaft. Darunter versteht Barbieri willkürliche Beziehungen zwischen verschiedenen molekularen „Welten“. An dieser Stelle seien vor allem Chemiker und Geologen aufgerufen, einen abiotisch entstandenen Code zu benennen, der den genannten Kriterien von Objekt, Zeichen und Interpreter gerecht wird. Denn was wir derzeit beobachten, lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Nur Lebewesen codieren – oder: Nur Leben bringt Leben hervor.

Die Frage nach dem Ursprung des Lebens konnotiert also stark mit dem Zustandekommen der ersten codierten Interaktionen. Wer die Biosemiotik radikal weiterdenkt, wird zur Erkenntnis gelangen, dass zwar Membranen und Zellwände eine wichtige Rolle in der Biologie spielen, aber letztlich nicht ausschlaggebend für eine Definition von Leben sind. Ein (molekular)biologisches „System“ hat eine viel abstraktere Grenze: Alles was nicht kompatibel mit dem zugrundeliegenden Set von Codes ist, kann nicht Teil des Systems sein – liegt also außerhalb.

Plakativ und maximal vereinfacht ausgedrückt: Wer nicht polnisch spricht, ist kein Pole. Es braucht keine Grenze um Polen, um selbige von „Nicht-Polen“ zu separieren. Biologische Barrieren können ebenfalls durch unterschiedliche Sprachen oder Dialekte bedingt sein: Die Expression eukaryotischer Gene in Prokaryoten macht beispielsweise einige Schwierigkeiten aufgrund des unterschiedlichen Codon-Gebrauchs in beiden Organismendomänen.

Immer wieder wird die Genomgröße bemüht, um die Komplexität verschiedener Organismen miteinander zu vergleichen oder eben das Scheitern eines solchen Ansatzes zu illustrieren. Letztlich spielt es aber keine Rolle, welche Teile man zu einer solchen Beurteilung heranzieht, denn weder Physik, Chemie oder Biologie liefern derzeit handfeste und vor allem quantifizierbare Komplexitätsmaße. Denn was ist komplexer: ein großes Virus oder ein kleines Bakterium?

In vielerlei Hinsicht eröffnet die Biosemiotik hier neue Wege in der Beurteilung von Lebewesen. Warum nicht die Anzahl der von einem Organismus verwendeten Codes in Relation zur Zahl seiner Bauteile setzen? Das liefert ein quantifizierbares Maß (einheitenlos!) zur Bestimmung und zum Vergleich von Komplexität. Mehr Codes pro Teile bedeutet demzufolge höhere Komplexität. Denkbar einfach! Die Code-Dichte lässt zudem Rückschlüsse auf die Manipulierbarkeit zu: Je höher die Code-Dichte, desto größer dürfte die Wahrscheinlichkeit sein, mit einer Intervention Off-Target-Effekte auszulösen...

Die synthetische Biologie erschafft bereits seit einigen Jahren genetische Codes, die als solche bisher nicht in der Natur entdeckt sind. Nicht nur hier, sondern auch bei der In-vitro-Genese einer minimalen, selbstreplizierenden Zelle wird vermutlich der Einsatz codierter Interaktionen unabdingbar sein. Ob den Erschaffern bewusst sein wird, dass sie gegebenenfalls selbst solche codierten Interaktionen etabliert haben, steht dabei auf einem anderen Blatt.

Und auch zelluläre Netzwerke lassen sich aus biosemiotischer Sicht völlig neu auswerten. Würde man den Komponenten einer Zelle konsequent die Rollen „Objekt“, „Zeichen“ und „Interpreter“ zuordnen, ließen sich möglicherweise viele bisher unbekannte Zusammenhänge erschließen. Ein Effekt, der sich in der gängigen Auswertung biologischer Netzwerke zeigt, lässt sich am besten als „Fading Causation“ beschreiben: Die Ursache-Wirkungs-Beziehungen sind wenig ersichtlich, beziehungsweise verlieren sich in den Weiten des Netzwerkes. Das Denken in Eins-zu-Eins-Interaktionen verhindert das Erkennen von Zusammenhängen, da viele zelluläre Relationen zustande kommen, weil sie durch einen Adapter, ein Zeichen, vermittelt werden. Insbesondere im Hinblick auf das Erkennen von Pathogenitätsmechanismen eröffnen sich hier neue Perspektiven. Ob Krebs oder Phantomschmerz – die Anwendungen dieser „neuen“ Denkweise birgt ein riesiges Potenzial.

Frau Schwille sucht in ihrem Artikel nach so etwas wie einem „biologischen Wasserstoffatom“ – und hofft darauf, „vielleicht sogar seine Gesetzmäßigkeiten aus den Eigenschaften und Gesetzen seiner Bestandteile abzuleiten.“ Einen universellen Minimalzellen-Baustein wird es sicher nicht geben können. Ein Code bestehend aus „Objekt“, „Zeichen“ und „Interpreter“ stellt jedoch eine nicht weiter reduzierbare Einheit dar, mit der lebende Systeme arbeiten. Diese vom Semiotik-Pionier Charles Sanders Peirce sogenannte Triade ist somit quasi die heilige Dreieinigkeit der Molekularbiologie. Und jeder Code ist damit nur ein Tropfen im unerschöpflichen Meer biologischer Wasserstoffatome.




Zum Autor

Robert Prinz ist promovierter Biologe und arbeitet seit 2010 als Medical Writer in der Pharmabranche.



Letzte Änderungen: 29.11.2019