Editorial

Spuren verwischen nicht

Juliet Merz


ULM: Traumatische Erfahrungen bedeuten Stress und belasten Betroffene oft bis ins hohe Alter. Besonders Missbrauchshandlungen in der Kindheit hinterlassen Spuren – auch im Stoffwechsel. Ein interdisziplinäres Team konnte nun zeigen, dass Stress mit einem chronisch veränderten Metabolom einhergeht.

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„Der Hauptgrund für Stress ist der tägliche Kontakt mit Idioten.“ Obwohl es zu bezweifeln ist, dass Albert Einstein dies wirklich einmal gesagt hat, ist an dem Satz zweifellos etwas Wahres dran. Dennoch kann Stress ganz unterschiedliche, individuelle Ursachen und Auswirkungen haben. Der ungarisch-kanadische Stressforscher Hans Selye unterschied zwei Arten von Stress: Eustress, quasi der „gute Stress“, wenn wir lachen und positiv aufgeregt sind; und Distress, der bei negativen Stressoren auftritt, wie etwa bei einem Todesfall oder einer Naturkatastrophe.

Ebenfalls besonders schwerwiegend sind traumatische Erfahrungen, die Personen in ganz frühen Jahren erfahren haben. „Aus der Psychotherapie wissen wir schon länger, dass Missbrauchshandlungen aus der Kindheit in den Betroffenen noch lange Zeit Spuren hinterlassen“, erläutert die Psychologin Iris-Tatjana Kolassa von der Universität Ulm, Abteilung Klinische und Biologische Psychologie. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team hat Kolassa in ihrer Arbeitsgruppe Molekulare Psychotraumatologie untersucht, wie sich Missbrauch, Misshandlungen und Vernachlässigung in der Kindheit systematisch auf den Stoffwechsel im Erwachsenenalter auswirken.

„Es ist bekannt, dass Betroffene anfälliger sind für psychische und physische Störungen, insbesondere wenn weitere Stressoren vorliegen“, erklärt die Psychologin – und ergänzt: „Bisher haben sich Stressforscher jedoch ausschließlich auf Neurotransmitter konzentriert. Wir konnten erstmals zeigen, dass der Körper noch Jahrzehnte nach einem Stress-induzierenden Ereignis wie einem Missbrauch einen veränderten Metabolismus in spezifischen Stoffwechselpfaden aufweist.“ Ihre Ergebnisse hat die Gruppe in Scientific Reports veröffentlicht (8: 3468).

Im Rahmen des Verbundprojekts „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ analysierten die Ulmer gemeinsam mit australischen Krebsforschern Serumproben von insgesamt 105 Frauen, die vor der Analyse verblindet und in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Die erste Gruppe umfasste 46 Frauen, die keine relevanten Missbrauchshandlungen und Vernachlässigungen in der Kindheit erlebt hatten. In die zweite Gruppe sortierten die Forscher insgesamt 59 Probandinnen ein, die als Kinder mindestens leichte bis schwere Misshandlung und Vernachlässigung erfahren hatten. Die Gruppeneinteilung erfolgte anhand eines zuvor ausgefüllten Fragebogens – dem von den Psychologen David Bernstein und Laura Fink entworfenen Childhood Trauma Questionnaire (kurz CTQ).

Die Frauen aus der „kindheitsbelasteten“ Gruppe hatten derweil ganz unterschiedliche Misshandlungen ertragen müssen: Diese reichten von emotionaler Vernachlässigung sowie psychischer oder physischer Erniedrigung über Essensentzug und Unterversorgung bis hin zu gewalttätigen oder sexuellen Übergriffen. Zum Zeitpunkt der Studie hingegen lebten alle Frauen in gewaltfreien Haushalten, führten nach eigenen Angaben weitgehend glückliche Beziehungen und waren Mütter geworden. Die Misshandlungen lagen also größtenteils Jahrzehnte zurück.

Ein Leben lang gezeichnet

Da negative Erfahrungen in der Kindheit die Betroffenen dennoch ein Leben lang psychisch belasten können, interessierte Kolassa und ihr Team, ob sich Misshandlungen auch Jahre später in der Physiologie der Frauen manifestierten. Im Visier hatten die Ulmer die körpereigenen Stoffwechselprodukte der Probandinnen. Mit der Flüssigchromatographie-gekoppelten „Time of Flight“-Massenspektrometrie (LC/TOF-MS) erfassten die Ulmer die Gesamtheit aller detektierbaren Stoffwechselprodukte der Frauen in deren Blutseren.

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Psychologin Iris-Tatjana Kolassa und Molekularbiologe Alexander Karabatsiakis. Foto: Uni Ulm

Das Ergebnis: Acht Metaboliten-Spiegel waren signifikant verändert im Vergleich zu den unbelasteten Versuchsteilnehmerinnen. „Hauptsächlich konnten wir ungesättigte Fettsäuren identifizieren, die bei Personen nach Stressbelastung verändert waren“, fasst Ko-Autor Alexander Karabatsiakis zusammen. Das Glycerolipid DG(18:0/20:3/0:0) war in vorbelasteten Frauen erhöht; die Glycerophospholipide PA(O-18:0/12:0), PC(O-18:0/20:0), PI(20:0/20:4) sowie PI(22:2/20:5) hingegen verringert. Der Molekularbiologe Karabatsiakis vermutet, dass die veränderten Fettsäure-Spiegel vor allem durch Entzündungsprozesse und Zellmembran-Veränderungen hervorgerufen werden. „Bei Entzündungen werden Zellen vermehrt ab- beziehungsweise aufgebaut. Durch den zellulären Turnover zirkulieren Membranbestandteile in einer veränderten Konzentration durch das Blut – wie es eben bei den Glycero- und Glycerophospholipiden der Fall ist.“

Doch auch andere Metabolit-Spiegel zeigten signifikante Veränderungen: Die Werte von Bilirubin IXa und dem Prostaglandin PGH2-EA waren stark erhöht, die Menge an Ubiquinon 8 war im Blut reduziert.

Wodurch das modifizierte Blutprofil zustande kommt, darüber können die Ulmer bislang nur spekulieren: „Bilirubin IXa beispielsweise ist ein Abbauprodukt von Hämoglobin“, erklärt Karabatsiakis. „Bei gestressten Personen nehmen Hämoglobin und Eisen im Blut ab. Doch warum, ist bislang nicht vollständig aufgeklärt. Möglicherweise wird Hämoglobin im Blut von gestressten Personen stärker mit freien Radikalen exponiert, sodass es seine Funktion nicht mehr ausüben kann, folglich als geschädigt erkannt und abgebaut wird.“

Trotz fehlender Erklärung verdeutlicht Kolassa: „Vor diesen Ergebnissen wusste man gar nichts über Stress-induzierte Stoffwechsel-Veränderungen und schon gar nicht, dass Missbrauchshandlungen im Kindesalter einen so langen metabolischen Atem haben.“

Die Vergangenheit vorhersagen

Im Umkehrschluss konnten Kolassa et al. anhand des Blutserum-Profils der Studienteilnehmerinnen sogar vorhersagen, ob sie Misshandlungen in der Kindheit erlebt hatten oder nicht – und das mit einer Genauigkeit von achtzig bis neunzig Prozent. „Wir können jedoch nicht einschätzen, welche Art der Misshandlung vorgefallen ist und wie lange die Stressoren zurückliegen“, stellt Kolassa klar.

Das sei auch gar nicht ihre Absicht, erklären die Forscher. „Wir wollten damit keine Missbrauchserfahrungen verifizieren oder Subtypen von Missbrauch identifizieren, sondern die Machbarkeit des Konzeptes darstellen“, verdeutlicht Karabatsiakis. Kolassa kann sich zudem vorstellen, dass auch Lebensstil-Faktoren einen Einfluss auf das metabolische Profil haben: etwa Rauchen, Ernährung oder zu wenig Bewegung.

In Zukunft könnten die Metaboliten-Werte als Indikator dafür dienen, dass sich Patienten auf dem Weg befinden, eine ohnehin mit Stress in Verbindung stehende Krankheit auszubilden – so wie Herzkreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Depressionen. Diagnostiziert der behandelnde Arzt ein derart verändertes metabolisches Profil, sollten die Metabolit-Werte und damit der Stoffwechsel wieder normalisiert werden. Am besten ginge das laut Kolassa, indem Betroffene Stressoren identifizieren und dann eliminieren oder zumindest reduzieren. Zum Beispiel, indem sie sich viel bewegen, ausreichend gut schlafen, entspannenden Freizeitaktivitäten nachgehen sowie positive Sozialkontakte pflegen.

Aber auch eine mediterrane Ernährung kann helfen: Diese ist reich an Omega-3-Fettsäuren, die sich laut mehreren Studien positiv auf Depressionen auswirken. „Der positive Effekt von Omega-3-Fettsäuren passt sehr gut zu unseren Ergebnisse, die zeigen, dass die Spiegel von Glycerophospholipiden im Blut verringert sind und Frauen daher einen erhöhten Fettsäure-Bedarf zu haben scheinen“, meint Karabatsiakis.

Wie sich Stoffwechselvorgänge normalisieren lassen, wollen Kolassa und Co. in Zukunft weiter untersuchen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat jüngst den Antrag für eine Studie bewilligt, in der die Ulmer zwei Therapiemethoden auf biologischer Ebene miteinander vergleichen möchten – die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie für komplexe Traumatisierung in der Kindheit und eine Form der Verhaltenstherapie (Exposure Therapy). Die Gruppe möchte herausfinden, wie effektiv die Therapien psychische Symptomatik reduzieren, ob sie die veränderten Metaboliten-Spiegel normalisieren können und ob sie sich positiv auf biomolekulare Zellschädigungsmarker auswirken – darunter verkürzte Telomere und chromosomale Einzel- und Doppelstrangbrüche.

„Wir können zwar durch Psychotherapie Erfolge erzielen, aber gerade bei Missbrauchshandlungen in der Kindheit sind die Therapien bislang vom Ergebnis her noch unbefriedigend“, gibt Kolassa zu Bedenken. „Das könnte daran liegen, dass wir die zugrundeliegenden biologischen Prozesse noch nicht ganz verstanden haben. Vorbelastete Frauen haben biologisch eventuell völlig andere Bedürfnisse, die mit Psychotherapie alleine wahrscheinlich nicht ausreichend bedient werden können.“ Sollte sich dies bestätigen und die von den Ulmern untersuchten beiden Therapiemethoden nicht den gewünschten Effekt erzielen, müssen Kolassa und Co. umdenken. „Dann müssen wir uns fragen, was es zusätzlich braucht, um das biologische Profil zu normalisieren. Zukünftig könnte das quasi eine ‚Psychotherapie plus‘ sein. Wie die jedoch aussehen könnte, kann ich noch nicht abschätzen.“



Letzte Änderungen: 10.10.2019