Editorial

Stillen zum Chillen

Larissa Tetsch


Regensburg: Das Neuropeptid Oxytocin verstärkt Paar- sowie Mutter-Kind-Bindungen. Bei Mäuse-Müttern dämpft das „Kuschelhormon“ außerdem eine antrainierte Furchtreaktion vor Artgenossen.

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Foto: iStock / anyaivanova

Den Nachwuchs zu stillen hat viele positive Auswirkungen – und das nicht nur für das Kind. Einerseits enthält die Milch natürlich alle für die kindliche Entwicklung wichtigen Nährstoffe, zum anderen fördert Stillen aber auch die Bindung zwischen Mutter und Kind. Hierzu trägt das deshalb gerne als „Bindungshormon“ bezeichnete Neuropeptid Oxytocin bei, das bei allen Säugetiermüttern vermehrt in Nervenzellen des Gehirns produziert wird. Wird es von der Hirnanhangsdrüse (Neurohypophyse) ins Blut sezerniert, fördert und ermöglicht es die Milchabgabe. Ebenfalls vermehrt ausgeschüttet wird es in Hirnregionen, die für mütterliches Verhalten aber auch für die Regulation von Stress- und Angstreaktionen wichtig sind. Zudem werden in bestimmten Gehirnarealen mehr Bindungsstellen für Oxytocin gebildet, sodass die entsprechenden Nervenzellen empfindlicher auf Oxytocin reagieren. Diese Anpassungen des Oxytocin-Systems im mütterlichen Gehirn haben vielfältige Auswirkungen und sollten Säugetiermütter helfen, besser mit der körperlichen und emotionalen Anstrengung bei der Aufzucht der Jungtiere umzugehen.

Wie die meisten Säugetiere leben auch Mäuse in Familiengruppen zusammen und zeigen dabei ein breites Spektrum an freundlichen und weniger freundlichen Interaktionen, die sich zwischen Kooperation und Konkurrenzverhalten einordnen lassen. Zahlreiche dieser sozialen Verhaltensweisen werden durch Oxytocin reguliert: das natürliche Verlangen für soziale Interaktionen, Sexualverhalten, Gruppengefüge und Empathie, aber auch Aggression.

Antrainierte Angst vor Artgenossen

Mit der Wirkung des Oxytocins auf das Verhalten beschäftigt sich Inga Neumann von der Universität Regensburg. Neben Sozialverhalten steht auch die Modulation der Emotionalität, zum Beispiel der Angst, im Zentrum der Untersuchungen. „Wir konnten an Ratten schon vor fast zwanzig Jahren zeigen, dass endogenes Oxytocin eine angstlösende Wirkung hat“, erklärt die Neurobiologin (Neuroscience 95: 567). „Ein aktiviertes körpereigenes Oxytocin-System, wie man es während der Laktation findet, ist für ein reduziertes Angstverhalten und auch für eine verminderte Stressreaktion verantwortlich. Das konnte auch bei stillenden Frauen gezeigt werden.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitsgruppe um Neumann zeigen konnte, dass auch sexuelle Aktivität das Oxytocin-System des Gehirns männlicher Tiere stimuliert und damit ebenfalls ihre Angst- und Stressreaktionen vermindert (PNAS 104: 16681-4).

In den bisherigen Versuchen wurden allerdings ausschließlich nicht-soziale Ängste untersucht, wie die vor hellen und ungeschützten Arealen, zum Beispiel auf einer erhöhten Plattform oder in einer Hell-Dunkel-Box. Dies wollten die Regensburger ändern. „Da Oxytocin neben diesen angstlösenden Effekten zahlreiche pro-soziale Wirkungen hat und möglicherweise sogar eine Rolle bei Autismus spielt, wollten wir ein spezielles Tiermodell für soziale Furcht etablieren.“ Tatsächlich konnte Neumanns Team zeigen, dass Oxytocin bei dieser sozialen Furchtkonditionierung eine ent­scheidende Rolle spielt und die soziale Furcht komplett auslöscht (Neuropharmacology 108: 284-91). Aufbauend auf diesen Ergebnissen untersuchten sie anschließend, inwieweit das endogene Oxytocin-System laktierender Mäuse die soziale Furchtkonditionierung beeinflusst (Current Biology 28: 1066-78.e6).

Stillen macht mutig

Dafür verglichen die Neurobiologen in Verhaltensversuchen die soziale Furchtreaktion von laktierenden und nicht-laktierenden (jungfräulichen) Mäusen, die zuvor auf Angst vor Artgenossen konditioniert worden waren. Zur Konditionierung wurden die Versuchsmäuse immer dann mit einem milden Stromschlag am Fuß bestraft, wenn sie sich einer gleichaltrigen Artgenossin in einer kleinen Box näherten und diese beschnüffelten. Somit lernten die Versuchstiere, die soziale Interaktion mit der Maus mit dem Stromschlag in Verbindung zu bringen und sich vor weiterem Kontakt mit Artgenossinnen zu fürchten. Als Kontrolle dienten Mäuse, die keinen Stromschlag erhielten und deshalb furchtlos ihrem angeborenen Bedürfnis nach sozialen Kontakten nachgingen.

Einen Tag nach der Konditionierung zeigte sich bei nicht-laktierenden Mäusen das lang anhaltende soziale Furchtgedächtnis: Während die nicht-konditionierten Mäuse die hintereinander präsentierten Artgenossinnen furchtlos beschnüffelten, mieden die konditionierten Tiere zunächst den sozialen Kontakt und erlernten erst langsam, dass nun sozialer Kontakt nicht mehr bestraft wurde. Die soziale Angst wurde also aus dem Gedächtnis „gelöscht“. Spannend war nun, wie sich die laktierenden Mäuse einen Tag nach der sozialen Furchtkonditionierung verhalten würden.

Obwohl sie am Tag der Konditionierung genau wie die nicht-laktierenden Versuchstiere ein deutliches soziales Meideverhalten gezeigt hatten, war dieses am nächsten Tag kaum noch sichtbar: Sie näherten sich sofort den präsentierten Artgenossinnen furchtlos an. Hiermit gelang der Neumann-Gruppe der Nachweis, dass die Beobachtung einer reduzierten Stressreaktion während der Laktation auch auf Furchtkonditionierung ausgedehnt werden kann. „Für uns war zudem wichtig zu zeigen, dass dieser Effekt der verminderten sozialen Furcht in der Laktation nicht auf eine veränderte Schmerzwahrnehmung oder die Anwesenheit der Jungtiere nach der Konditionierung zurückzuführen ist; sowohl Muttertiere mit als auch ohne Kontakt zu den Jungtieren nach der Konditionierung zeigten dieselbe soziale Furchtlosigkeit“, führt Neumann aus. Dass die Abwesenheit der Jungen andererseits wiederum einen besonderen Stress für die Mutter bedeuten könnte, schlossen die Forscher aus: „Mäuse- und Rattenmütter sind nicht sonderlich gestresst, wenn die Jungen nicht da sind. Sie rollen sich einfach zusammen und schlafen.“

Um den interessanten Befunden aus den Verhaltensversuchen auf die neurobiologische Spur zu kommen, wurden zahlreiche weiterführende Versuche durchgeführt. Mithilfe von Immunohistochemie verglichen die Forscher aus Regensburg das neuronale Aktivitätsmuster verschiedener Hirnregionen laktierender und nicht-laktierender Mäuse als Antwort auf die Angstkonditionierung und fanden deutliche Unterschiede, zum Beispiel im Septum pellucidum – einer Region des limbischen Systems und Schnittstelle zwischen Hippocampus und Hypothalamus. In dieser Region konnten in Kooperation mit Valery Grinevich und Marina Eliava vom DKFZ Heidelberg auch eine höhere Dichte von Oxytocin-Fasern und eine verstärkte Oxytocin-Ausschüttung in laktierenden Tieren nachgewiesen werden. Doch ist das aktive Oxytocin-System der laktierenden Mäuse-Mütter für die fehlende soziale Furcht nach der Konditionierung verantwortlich?

Oxytocin für Angstpatienten?

Um diese Frage zu beantworten, regulierten die Regensburger das Oxytocin-System experimentell hoch oder runter. „Wurde die Dichte der Oxytocin-Rezeptoren im lateralen Septum von jungfräulichen Mäusen hochreguliert, dann zeigten diese eine ähnlich geringe soziale Angst wie laktierende Tiere. Die gleiche Wirkung fanden wir nach lokaler Infusion von Oxytocin in das laterale Septum, was darauf hinweist, dass wir im Prinzip so den physiologischen Status des aktivierten Oxytocin-Systems der Mäuse-Mütter imitierten“, erklärt Neumann. Ein genetischer Knock-out des Rezeptors bei den Müttern oder die lokale Gabe eines Antagonisten des Oxytocin-Rezeptors führte dagegen zu einer verstärkten sozialen Angst.

Diese Ergebnisse zeigten deutlich, dass das aktivierte Oxytocin-System im Gehirn laktierender Mäuse für die soziale Furchtlosigkeit verantwortlich war. Aber die Neurobiologen wollten die Vernetzung der beteiligten Oxytocin-Neuronen noch etwas genauer charakterisieren. „Wurden im laktierenden Tier diejenigen Oxytocin-Neuronen gehemmt, die aus den hypothalamischen Kerngebieten Nucleus paraventricularis und Nucleus supraopticus zum lateralen Septum ziehen, dann zeigten diese Mütter ein hohes Maß an sozialer Furcht und überhaupt keine Angstauslöschung. Dies ist ein stimmiger Beweis für die Wichtigkeit von Oxytocin für soziale Furcht und deren Auslöschung sowie für soziale Kontaktaufnahme“, ist Neumann überzeugt. Um die Oxytocin-produzierenden Neuronen gezielt zu hemmen, wurden sie unter der Kontrolle des Oxytocin-Promotors zur Synthese inhibitorischer DREADD-Rezeptoren durch virale Infusion veranlasst. An diese Rezeptoren bindet Clozapin-N-Oxid, das systemisch verabreicht werden kann, die Blut-Hirn-Schranke durchdringt und dann hoch selektiv die Oxytocin-produzierenden Neuronen hemmt, die den DREADD-Rezeptor gebildet haben. Ein Vorteil dieser chemogenetischen Methode gegenüber der Optogenetik, mit der ebenfalls bestimmte Nervenzellen spezifisch gehemmt (oder auch erregt) werden können, besteht darin, dass keine Glasfasern zur optischen Stimulation implantiert werden müssen.

Im lateralen Septum scheint Oxytocin an Neuronen zu wirken, die den Oxytocin-Rezeptor exprimieren und den hemmenden Neurotransmitter GABA (γ-Aminobuttersäure) produzieren. Deren neuronale Projektionen und Involvierung in die Oxytocin-induzierte Angstauslöschung sind jedoch noch unbekannt. Alles in allem legen die Ergebnisse der Studie nahe, dass das laterale Septum, das an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt ist, sowohl für die Ausprägung als auch für die Auslöschung von sozialer Angst wichtig ist. Oxytocin hemmt lokal die neuronale Aktivität, indem es GABA-produzierende Neurone aktiviert. Ist das körpereigene Oxytocin-System aktiviert, wie im Falle der Laktation, dann geht dies mit dramatischen Verhaltensveränderungen einher, zum Beispiel verringerte Angst- und Furchtreaktionen. Ob dies auch beim Menschen so funktioniert, ist zwar unbekannt, jedoch anzunehmen, da generell verminderte Stress- und Angstreaktionen sowie eine gewisse „Gelassenheit“ bei stillenden Müttern beobachtet wurden.

Oxytocin für Angstpatienten?

„Einige Studien zur Angst am Menschen, in denen Oxytocin über ein Nasenspray verabreicht wurde, zeigten speziell im sozialen Kontext positive Effekte“, berichtet Neumann. Eventuell könnten diese Erkenntnisse bei der Behandlung von Autismus und Angststörungen des Menschen hilfreich sein. „Interessant ist deshalb natürlich nicht nur, ob nasal verabreichtes Oxytocin effektiv soziale Angst beim Menschen reduziert, sondern auch, wie man das endogene Oxytocin-System beim Menschen aktivieren kann. Neben Stillen und sexueller Aktivität ist auch Laufen ein geeigneter Stimulus, der nachweislich die Oxytocin-Freisetzung bei Männern und Frauen ankurbelt. Dies konnten wir 2016 in der sogenannten Regensburg-Oxytocin-Challenge-(ROC)-Studie zeigen“, berichtet Neumann.

Ob das bedeutet, dass es Sex und Jogging bald auf Rezept gibt?

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Inga Neumann (oben links) untersucht mit ihrer Arbeitsgruppe in Regensburg, wie sich das „Kuschelhormon“ Oxytocin auf die soziale Interaktion von Mäusen auswirkt. Foto: AG Neumann



Letzte Änderungen: 10.10.2019